Leistungsgesellschft und Menschenwürde?

Sobald ein Kind auf die Welt kommt, wird es gefördert: „Mein Baby kann schon“ ist ein wichtiges Thema in der Krabbelgruppe. Und das geht so weiter: Musikunterricht, Ballett, Fußballtraining, Nachhilfe, Mentorat … Und wenn die „Leistung“ nicht erbracht wird? Was macht den Wert des Menschen und des Lebens aus? Menschenwürde bekommen wir durch Gott, der gnädig auf uns sieht. Aber was heißt „Gnade“ - Gott sieht „gnädig“ auf uns. Pfarrer Rudolf Ehrmantraut erinnert sich an eine Geschichte von Rachel Naomi Remen, die deutlich macht, wie Kinder verstehen können, dass Gott uns immer in Liebe zugewandt ist.

Gnade

Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da. „ Das ist mein Lieblingslied“, sagte Laura im Kindergottesdienst, „ das kann ich mir so gut vorstellen. Wir haben nämlich vor kurzem unsere Pfarrerin gefragt, ob Gott uns wirklich lieb hat, auch dann wenn ich mal etwas angestellt habe? Unsere Pfarrerin hat darauf gesagt: Hört mal zu, ich habe euch eine kleine Geschichte mitgebracht, die erzählt davon, wie wir uns das besser vorstellen können.

Eine Kinderärztin, die in den Vereinigten Saaten von Amerika lebt, erinnert sich an ihre Kindheit, vor allen erinnert sie sich an ihren Großvater. Einmal in der Woche kamen sie immer zusammen, sprachen über das, was in der Woche alles so war und tranken dabei einen Tee. Und dann?

„Wenn wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellte mein Großvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott… dann begann er stets Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass er ihn zum Großvater gemacht hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im Laufe der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott etwas Echtes über mich.

Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche etwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung dafür zum Ausdruck, wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht meiner Taschenlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte – Sara, Rachel, Rebekka und Lea - auf mich aufzupassen.

Diese kurzen Momente waren in meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offensichtlich immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: „ Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?“ Während meiner gesamten Kindheit rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher.

Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgendwie mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte.

Mein Großvater starb als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte bis dahin nie in einer Welt gelebt, in der es ihn nicht gab. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen konnte, wer ich war, einfach verschwinden würde. Aber mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen. Und dass einmal gesegnet worden zu sein heißt, für immer gesegnet zu sein“.

(Rachel Naomi Remen, Aus Liebe zum Leben. Geschichten, die der Seele gut tun, Arbor Verlag, Freiburg, 2002)

Pfarrer Rudolf Ehrmantraut, Diakonisches Werk Pfalz