Die Einsamkeit der Dichterin

Der Liederkanon im Evangelischen Gesangbuch – Ein Opus für großen philharmonischen Männerchor mit wenigen weiblichen Solisten • von Gertie Pohlit

Dichterinnen und Komponistinnen sind im Evangelischen Gesangbuch (EG) eine Minderheit, haben aber ihre Spuren hinterlassen. Wohl einer der bekanntesten Texte ist das vor genau 200 Jahren erschienene Abendgebet „Müde bin ich geh zur Ruh“ von Luise Hensel. Foto: flor

Allein 587 geistliche Lieder gehen auf das Konto der Adeligen Ämilie Juliane von Schwarzberg-Rudolstadt, darunter „Bis hierhin hat mich Gott gebracht“. Foto: wiki

Jahrhundertelang prangte über dem Bild der Frau in der Gesellschaft – vornehmlich der bürgerlichen – das Diktum der drei großen „K“ – Kinder, Küche, Kirche. Wobei die beiden Ersteren eine gewisse „Regentschaft“ innerhalb männlicherseits vorgezeichneter Maßgaben nicht ausschlossen. Das Kirchen-K indes verordnete strikt passive Teilhabe, stille Frömmigkeit, schweigsame Demut. Lange war das so. Was Wunder, dass im seit 1994 gültigen Evangelischen Gesangbuch (EG) nur 24 weibliche Stimmen in den Chor der rund 550 Dichter und Komponisten mit einstimmen. Ganz in der Minderzahl sind dabei die Tondichterinnen: Lediglich zwei haben es in den EKD-weiten Stammteil geschafft.

Dichtende und komponierende Frauen hat es zu allen Zeiten gegeben, aber eben nicht deren Wahrnehmung. Historisch betrachtet war es die Reformation, die neben vielen Erschütterungen auch an dieser ehernen Grundfeste rührte, Frauen behutsam in die Riege intellektueller Mitgestalter aufnahm und zumindest im häuslich geselligen Rahmen zum geistigen Disput zuließ.

Und auch deren schöpferische Beiträge fanden Anerkennung. Das mochte teils ganz pragmatische Ursachen haben: Die neue Gottesdienstagende verlangte Materialien, volkssprachliche Texte, dazu neuen Melodien, der Bedarf war immens. Martin Luther – selbst begnadeter Lyriker, Sänger und Musikant – hob ja bekanntlich die „klingende Verkündigung“ auf ein exponiertes Podest. Und bediente sich gerne der geistlichen Poeme der Dichterinnen in seinem Umfeld.

Die erste christliche Lyrikerin, die er in seiner Liedsammlung aufnahm, war Elisabeth Cruciger (auch Kreuziger), geboren um 1500 in Hinterpommern und bereits mit 35 Jahren in Wittenberg verstorben. Sie zählte zu Luthers familiärem Umfeld, war zudem eine gute Freundin von Katharina von Bora. Freilich – auch da galt das Verdikt öffentlicher „Unsichtbarkeit“: Ihr Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ (EG 67) brachte ihr nach Quellenlage vom eigenen Ehemann das gönnerhafte Lob „So, als hatte es ein Mann geschrieben“ ein – und eine Veröffentlichung unter dessen Namen. Diese Vorgehensweise hat – so wird vermutet – unzählige Geschwister, sodass man eigentlich nur mutmaßen kann, dass allerhand weibliche Handschrift bei der reformatorischen Neugestaltung der Liederlandschaft im Spiel war. Eine Dunkelziffer in nennenswerter Höhe wird da wohl bis in die heutigen Tage mitgeschleppt. Vor allem innerhalb anonymisierter Quellen, wie etwa dem Liedschatz der „Böhmischen Brüder“, ist mutmaßlich Schwesterliches verborgen.

Eine der produktivsten Lieferantinnen etwas späterer Liedausgaben, die in nachreformatorischer Zeit wie Pilze aus den Druckereien sprossen, war die Adelige Ämilie Juliane von Schwarzberg-Rudolstadt (1637 bis 1706). Allein 587 geistliche Lieder dichtete die Gräfin nachweislich, zwei davon finden sich auch heute noch im Evangelischen Gesangbuch: „Bis hierhin hat mich Gott gebracht“ (EG 329) und „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ (EG 530).

Das weist en passant die Fährte in Richtung Adel. Nicht von ungefähr finden sich unter den Dichterinnen der Liederbücher Gräfinnen, Baronessen oder zumindest solche mit „von“ im Namen. Natürlich war es in adeligen Kreisen des 17. bis 19. Jahrhunderts üblich, auch den Frauen eine – zumindest musisch ausgerichtete – Bildung angedeihen zu lassen. Fremdsprachenkenntnisse, ergänzt durch Literaturunterweisung und Klavierspiel zählten zum Grundkanon. Dass da gelegentlich eine der Damen aus dem Ruder lief, mit Begabung und Fantasie eigene Welten erschuf, war im Grunde unerwünscht. Aber auch nicht zu vermeiden.

Die im hessischen Idstein geborene Henriette Maria Luise von Hayn (1724 bis 1782), geprägt durch die Herrnhuter Brüdergemeine, zählt dazu; ihr verdanken wir „Weil ich Jesu Schäflein bin“, im Regionalteil Pfalz-Baden-Elsass-Lothringen. Ebenso Hedwig von Redern (1866 bis 1935). Die Berlinerin, die einem altbrandenburgischen Adelsgeschlecht entstammt und vielfach karitativ in Pflegediensten, in der Polizeiseelsorge und als Gründerin eines Frauenmissions-Gebetsbunds gearbeitet hat, ist mit ihren Gedichten in etlichen Regionalausgaben des EG präsent, in der Pfalz mit „Weiß ich den Weg auch nicht“.

Eine Generation früher machte Gräfin Eleonore zu Stolberg-Wernigerode (1835 bis 1903) von sich reden. Ihr Gedicht „Das Jahr geht still zu Ende“ findet sich im Stammteil des EG (Nr. 63) und verleiht der Hoffnung auf Erlösung auf berührende Weise beredten Ausdruck. Es ist eine Trauerode auf den Tod einer lieben Freundin. Sehr persönlich, aber dennoch hochkarätige Lyrik.

Das Leben ihrer Zeitgenossin Anna Thekla von Weling (1837 bis 1900) rückt einmal mehr die Ambivalenz zwischen schriftstellerischer Ambition und Öffentlichkeitswahrnehmung in den Blick. Die Autorin, Tochter einer schottischen Hofdame und als solche im Korsett adeliger Etikette erzogen, gleichzeitig mit einer gewissen Weltläufigkeit ausgestattet, wird angeregt durch vielfache geistige Impulse – Erweckungstheologie in Schottland, Herrnhuter Brüdergemeine in der Lebensstation Neuwied. Sie leitet während des deutsch-französischen Kriegs in Bonn ein Lazarett, adoptiert Waisenkinder und gründet schließlich im Saale-Kreis eine Kleinkinderschule.

Gleichzeitig veröffentlicht sie Gedichte, religiöse Erzählungen und Romane; nicht unter ihrem Namen, sondern mit dem Pseudonym Hans Tharau. Ihr mutiger Enthüllungsroman „Die Studiengenossen“ wird ihr dennoch 1882 zum Verhängnis. Sie muss Bonn verlassen. Im Evangelischen Gesangbuch ist sie im Stammteil mit „Die Kirche steht gegründet allein auf Jesu Christ“ (EG 264) vertreten, auch das katholische „Gotteslob“ hat sie im Kanon (Nummer 482).

Wer weitere Brutstätten geistiger Bildung für Frauen der Mittel- und Oberschicht auszumachen sucht, wird zuweilen bei den Klosterschulen anlanden, häufiger noch empfehlen sich als prägend Pfarr- und Lehrerhäuser. Prominentes Beispiel hierfür ist Wilhelmina (Minna) Amalie Koch (geborene Schapper 1845 bis 1898). Sie zählt zur raren Spezies der Komponistinnen, ist eine von nur zweien, die im Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs Aufnahme fanden. Aufgewachsen in einem Pfarrhaus in Bad Münster am Stein, später Wetzlar, Koblenz und schließlich Wittenberg, wo der Vater zum Direktor des Königlichen Predigerseminars berufen worden war, wuchs sie auf in der lebendigen Auseinandersetzung mit den Schriften Martin Luthers und Philipp Melanchthons, aber auch musikalisch vielseitig gefördert. Ein Gedicht von Adolf Krummacher „Stern, auf den ich schaue“, hat sie zu einer bis heute populären Melodie inspiriert (EG 407).

Die lettische Dichterin Julie Katharine Hausmann (1826 bis 1901), der wir das ungemein beliebte – „So nimm denn meine Hände“ (EG 376) verdanken, wuchs mit fünf weiteren Schwestern im Haushalt eines Gymnasiallehrers auf. Sie immerhin hat es geschafft, ihre Gedichtsammlungen zu Lebzeiten und mit eigenem Namen unter die Leute zu bringen. Es erschien 1862 unter dem Titel „Maiblumen – Lieder einer Stillen im Lande“. Ein 700 Seiten starkes Andachtsbuch brachte 1899 ebenfalls gute Verkaufserlöse, die sie regelmäßig karitativen Einrichtungen spendete.

Im 19. Jahrhundert, geprägt von gegensätzlichen Strömungen – hier strenges Reglement, da politischer Umbruch, Entgrenzung – emanzipierten sich vor allem die Frauen des gebildeten Großbürgertums gesellschaftlich. Sie führten literarische Salons, dichteten, komponierten, exponierten sich als Künstlerinnen. Prominente Beispiele gibt es zu Hauf, die Pianistin Clara Schumann etwa oder die Komponistin Fanny Hensel, die Schwester Felix Mendelssohns. Deren Schwägerin Luise Hensel (1798 bis 1876), Schwester ihres Ehemanns, des Malers Wilhelm Hensel, konvertierte 20-jährig vom lutherischen zum katholischen Glauben; eine außergewöhnlich attraktive und mit „schöner Wesensart“ ausgestattete Dame der gehobenen Gesellschaft. Die Männer lagen ihr zu Füßen. Dichter und Intellektuelle verliebten sich unsterblich in sie. In bemerkenswerter geistlicher Standhaftigkeit indes verordnete sie sich, nachdem sie mit 22 Jahren bei den Jesuiten das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hatte, lebenslange Keuschheit.

Wilhelm „Maler“ Müller inspirierte seine unglückliche Liebe zu Luise Hensel zu jenen Gedichtzyklen, mit denen sie durch Schuberts Vertonungen unsterblich wurde. „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“. Clemens Brentano, dem sie zeitlebens verbunden blieb, setzte sie zur Verwalterin seines literarischen Nachlasses ein. Und Luise pilgerte, arbeitete in tätiger Nächstenliebe, gründete Armenhäuser. Und schrieb. Die Kopfstrophe eines ihrer berühmtesten Gedichte ist der Abendgebetklassiker schlechthin: „Müde bin ich, geh zur Ruh“ (EG 484).

Die im Gesamtkontext raren Komponistinnen sind vor allem im 20. Jahrhunderts verortet. Frieda Helene Fronmüller (1901 bis 1992) war Kantorin an der St. Michaelskirche zu Fürth; eine kirchenmusikalische Allrounderin, als Pianistin, Organistin, Chorleiterin und Leiterin von Blechbläserensembles genauso erfolgreich wie als Komponistin. Als erste Frau in Deutschland wurde ihr 1955 der Titel Kirchenmusikdirektorin zuerkannt. Zu den Versen von „Freuet euch der schönen Erde“ von Philipp Spitta hat sie die Melodie geschrieben (EG 510).

Felicitas Kukuck (1914 bis 2001), geboren in Hamburg, war eine Komponistin mit jüdischen Wurzeln, Schülerin von Paul Hindemith. Sie war eine geborene Cohnheim. 1916 änderte ihr Vater auf Wunsch seiner Mutter seinen jüdischen Namen in Kestner um. Sie verdankte es ihrem Mann Dietrich Kukuck, dass sie nicht von den Nazis ermordet wurde. Er fand 1939 einen Standesbeamten, dem er mutig eine „astreine“ Geburtsurkunde mit dem Namen Kestner vorlegte. Kukuck  veröffentlichte ihre rund 1000 Werke, darunter eine Vielzahl geistlicher Kompositionen, erst nach dem Krieg. Ihr Werk ist stark politisch-religiös geprägt. Ihre Kirchenopern führen Stichworte wie Hiroshima, Tschernobyl, Todesfuge oder Ecce Homo im Titel. Sie schuf die Melodie zum Lied „Manchmal kennen wir Gottes Willen“ in mehreren Regionalteilen, das sich auch im katholischen „Gotteslob“ unter der Nummer 299 findet.

Schließlich: Die Polin Zofia Jasnota („Unfriede herrscht auf der Erde“), Dora Rappard („Gott ist getreu“), die Österreicherin Maria Ferschl, der wir den Vorweihnachtshymnus „Wir sagen euch an den lieben Advent“ (EG 17) verdanken, auch Anna Martina Gottschick (EG 154) ist zu nennen. Und natürlich: Maria Luise Thurmaier (1912 bis 2005). Sie ist die große Dichterin der 2013 neu aufgelegten Sammlung zum „Gotteslob“ – 38 Liedtexte hat sie beigesteuert. Und auch in vielen Regionalteilen des EG fand sie Aufnahme. Im Stammteil findet sich unter anderem „Dank sei dir, Vater“ (EG 227).

2018 soll das Liederkompendium für die EKD in neuer Form erscheinen. Ein bisschen gespannt sein darf man da schon auf den Anteil weiblicher Provenienz.  

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