Musikalische Brücke ins Erzgebirge

Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall hält der Kirchenchor Haßloch Kontakt zum Partnerchor Cranzahl

Freudig begrüßt: DDR-Bürger im Herbst 1989 an der Grenze bei Herleshausen. Foto: epd

Gemeinsamer Auftritt: Die Partnerchöre 2002 in Cranzahl. Foto: pv

Als um die Weihnachtszeit 1980 die taufrische Partnerschaft des Protestantischen Kirchenchors Haßloch mit der Kirchenmusik der kleinen erzgebirgischen Gemeinden Cranzahl, unweit von Annaberg, vergleichsweise rasant in die Gänge kam, hätte sich beiderseits wohl niemand vorstellen können, dass die Trennung der deutschen Staaten neun Jahre später bereits Geschichte sein würde. Ebenso der „Antifaschistische Schutzwall“, wie die Mauer im DDR-Politjargon hieß; und damit auch all die fantasievollen Umwege, politbürokratischen Stolpersteine und findigen „Gesetzesverstöße“, die zum Alltag zählten im von oben missmutig beäugten Geschmuse mit dem „Klassenfeind“.

Gottfried Eichler, damals Pfarrer in Haßloch, hatte den Kontakt zum Kantor Helmut Lorenz vermittelt. Der stellte in seiner damals kaum 250 Seelen zählenden Gemeinde Cranzahl mit einem properen Chor nebst Orchester und Solo-tauglichen Stimmen eine Kirchmusik von nahezu professionellem Zuschnitt auf die Beine.

Das Patenamt der Haßlocher kam rasch in Schwung, wie Chorleiterin Ursel Kaleschke sich erinnert. Briefpartnerschaften wuchsen aus dem Boden, die großen Paketpack-Aktionen, mehrfach im Jahr, vor allem zur Vorweihnachtszeit, mit gut erhaltener Westkleidung, Backzutaten, Kaffee, Schokolade, Maggi-Suppen und -soßen – die liebte Helmut Lorenz so sehr – wurden an Privatadressen geschickt. Die Verteilung der Textilien und die Verlosung der Genussmittel zählte für die Cranzahler Sänger fortan zu den schönsten vorweihnachtlichen Ereignissen.

Aber von Beginn an lebte die Partnerschaft auch von den persönlichen menschlichen Kontakten. Petra Sauer zum Beispiel, gebürtige Cranzahlerin und seit Kurrende-Tagen samt ihren Schwestern mit der dortigen Kirchenmusik verbandelt, führte eine dieser Brieffreundschaften nach ihrer Ausreise aus der DDR 1989 in die Pfalz. Sie durfte mit Mann und zwei halbwüchsigen Töchtern während des bewegten Sommers ausreisen. „Wir hatten Verwandtschaft in Bayern und im Schwäbischen. Aber die Verbindung zu den Haßlocher Chorfreunden Hans und Heidemarie Postel war durch unseren intensiven Briefkontakt so eng und vertraut geworden, dass wir uns schließlich für Iggelheim, wo es gerade eine Wohnung für uns gab, entschieden.“ Ihr Mann fand als Kfz-Mechaniker rasch Arbeit, sie selbst – in der DDR unter anderem fürs Diakonische Werk tätig – ist seit 1992 im Landeskirchenrat beschäftigt.

Natürlich sind auch die Annalen des Haßlocher Kirchenchors prall gefüllt mit Geschichten und Anekdoten um diese Partnerschaft, die zumindest auf der persönlichen Ebene dank all der angebahnten Briefkontakte bis heute lebendig ist. Erste Besucher aus Cranzahl empfing der Chor schon 1982, nun ja: die Rentner durften – Verwandtschaftsverhältnisse vorgebend – ausreisen. 1985 wiederum machte sich eine kleine Delegation Haßlocher zur Aufführung der „Schöpfung“ von Joseph Haydn ins Erzgebirge auf den Weg. Selbstverständlich war die Haßlocher Verstärkung im Chor höchst willkommen. Von da an gab es – bis in die frühen 2000er Jahre regelmäßig wechselseitige Besuche. Zu DDR-Zeiten nutzte man auch sonst jede sich bietende Möglichkeit der Begegnung. „Einmal haben wir uns zu zweit einer Studienreise nach Dresden angeschlossen“, erzählt Ursel Kaleschke. „In Dresden trafen wir uns in einem Hinterhof mit den Freunden, die uns zu einem Kurzaufenthalt nach Cranzahl brachten. Da wir aber eine Stasi gelenkte Aufpasserin hatten, wurden zuvor zwei loyale Dresdenerinnen in Westklamotten gesteckt, nahmen unsere Plätze ein, und damit stimmte die Zahl im Bus wieder.“

Natürlich habe man bei den Besuchen stets Schmuggelware mitgeführt, versteckt im Schuh oder in der Unterwäsche. „Zum Glück ist nie etwas passiert.“ Helmut Lorenz, der Cranzahler Kantor, der im Übrigen schwer an Multipler Sklerose litt, ist 2002 schon gestorben. Die jüngere Generation in Cranzahl, räumt Ursel Kaleschke ein, sei jetzt nicht mehr so interessiert. „Aber die gewachsenen Kontakte florieren unvermindert. Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer.“ Gertie Pohlit

Mulmiges Gefühl beim Erfurter Friedensgebet im Wendeherbst

Seit fast 40 Jahren treffen sich Gemeindemitglieder aus Nienburg an der Saale und Speyer – Pfarrer Stefan Aniol blickt 30 Jahre zurück

„Der Mauerfall damals, das war für uns unfassbar“, sagt der Nienburger Pfarrer Stephan Aniol, damals Theologiestudent an der kirchlichen Hochschule Erfurt. „Wir haben das in den Nachrichten gehört und erst mal gedacht, da hat sich jemand versprochen.“ Seit 2010 ist Aniol Pfarrer der rund 350 Mitglieder zählenden Kirchengemeinde zwischen Magdeburg und Halle. Sie hat seit 1981 eine Partnerschaft mit der Auferstehungsgemeinde Speyer. Pfarrer Hans Blitt hatte damals nach einer Partnergemeinde gesucht. In dieser Woche ist eine Delegation aus Sachsen-Anhalt in der Pfalz zu Gast.

Von 1981 bis 1989 trafen sich die Gäste aus Westdeutschland mit den Nienburgern im Missionshaus in Friedrichshain in Ostberlin. „Das Treffen mit den Westdeutschen wurde nicht gern gesehen vom Staat, aber auch nicht unterbunden“, sagt Aniol. „Ich denke, es gab auf jeden Fall Beobachtung.“ Der Pfarrer erinnert sich noch gut an die Friedensgebete im Herbst 1989, an denen er in Erfurt als Student teilnahm. „Am 7. Oktober, das muss ein Samstag gewesen sein, war eine Schlussandacht in der Kaufmannskirche. Wir wollten reingehen, aber es war stoppenvoll. Die haben uns gesagt, das wird in einer Stunde wiederholt.“ Anschließend zogen Menschen aus allen Kirchen mit Kerzen in den Händen in einem Sternmarsch zum Domplatz. „Dass wir so viele waren, das war ermutigend. Gleichzeitig aber auch gruselig, wir wussten ja nicht, was passiert.“ Zwar hätten alle „keine Gewalt, keine Gewalt“ skandiert. „Aber wir haben auch gewusst, wenn da ein Stein fliegt, geht es los.“

Jetzt, fast 30 Jahre nach dem Mauerfall, blickt Aniol nicht mit Nostalgie zurück. Klar gebe es Leute, die mit der Wende „unter die Räder gekommen seien“. Trotzdem gehe es heute vielen besser. „Das vergisst man schnell.“ Einige klagten auf hohem Niveau. Was Aniol freut: Immer stünden bei den gemeinsamen Treffen nicht nur gemeinsame Unternehmungen, sondern auch Themen auf der Tagesordnung: Pietismus, Diakonie, Reformation. Neben dem Rückblick auf die Wende gehe es in diesem Jahr sicher auch um das Thema AfD, um den Frust vieler Menschen, Ängste, aber auch fehlende Sachlichkeit. Es sei schlimm, zu sehen, wie Kanzlerin Merkel für ihre christliche Politik abgestraft worden sei.

In Sachen Mitgliederschwund stünden die Kirchengemeinden in Nienburg und Speyer vor denselben Problemen. Wie erreicht die Kirche die 25- bis 35-Jährigen, wo der Kontakt zur Kirche abreißt. Es gehe um eine viel individuellere Haltung, ist Aniols Eindruck von Menschen, die sich von der Kirche abwenden. Sie fragten sich: „Was habe ich gerade davon.“ Er selbst besuchte 1990 erstmals Westdeutschland. In Erinnerung ist ihm vor allem der Ku’damm. „Bunt und sehr grell. Ich war froh, als ich wieder in meiner grauen U-Bahn saß.“ Florian Riesterer

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