Ein Ort spielt den Kirchenkrimi

Die Volksschauspiele in Ötigheim ist die größte Freilichtbühne in Deutschland – von Alexander Lang

Ein Mönchschor probt seinen Auftritt für das Bühnenstück „Der Name der Rose“, das im August an fünf Abenden bei den Volksschauspielen in Ötigheim zu sehen ist. Fotos: Uli Deck/Artis

Mehrere Mönche werden in einer Spielszene verhört, festgenommen und mit der Folter bedroht.

Das namenlose Bauernmädchen, die „Rose“ Stephanie Kuhn, wird als Hexe angeklagt und mit einem Pferdewagen zum Scheiterhaufen abtransportiert.

Die „Rose“, das namenlose Bauernmädchen, stürzt in den Staub. „Sie ist eine Hexe!“, krächzt der arrogante Inquisitor, der in kurzer Hose, schwarzem Umhang und Turnschuhen vor der imposanten Klosterkulisse steht. Die Mönche murmeln, schlagen entsetzt die Hände vors Gesicht. Dem Mädchen und den anderen Delinquenten, denen mysteriöse Morde hinter den Klostermauern zur Last gelegt werden, droht der Abtransport zum Sitz des Gegenpapstes nach Avignon, zum Scheiterhaufen.

Doch „wo ist die Kutsche!“, ruft Regisseurin Rebekka Stanzel. „Viel zu langsam“, kommentiert sie lauthals, als der Pferdewagen endlich über den riesigen Sandplatz rattert. Probe bei den Volksschauspielen in Ötigheim, auf Deutschlands größter, von Amateuren bespielten Freilichtbühne bei Rastatt in Baden-Württemberg: nur noch wenige Tage bis zur Wiederauflage der Bühnenversion des erfolgreichen Mittelalterkrimis „Der Name der Rose“ von Umberto Eco.

Vergleichsweise klein sind diesmal mit rund 50 Schauspielern die Massenszenen, für die das Laientheater weithin bekannt und beliebt ist: Bei manchen Stücken ziehen bis zu 600 verkleidete Personen mit Tieren und Wagen über den Platz. In dem kleinen mittelbadischen Ort machen seit 1906 die Bürgerinnen und Bürger selbst Theater: Zwei bis drei bekannte Werke der Weltliteratur wie Goethes „Götz von Berlichingen“ oder Hugo von Hoffmannsthals „Jedermann“, aber auch Musicals, Operetten und Opernklassiker stehen neben Gastspielen jährlich auf dem Spielplan des Theatervereins mit seinen rund 1600 Mitgliedern.

Das Besondere: Immer wieder gibt es dezidiert christliche Stücke oder Bühnenwerke mit religiös-ethischem Hintergrund zu sehen. Denn die von dem katholischen Priester Josef Saier (1874 bis 1955) gegründeten Volksschauspiele haben als klaren, kulturpolitischen Auftrag, „christliche Inhalte unters Volk zu bringen“, wie Geschäftsführer Marc Moll sagt. Insgesamt rund 100000 Besucher, darunter viele aus Rheinland-Pfalz und Hessen, strömen im Jahresdurchschnitt in den überdachten Zuschauerraum mit seinen 4000 Plätzen vor der Naturbühne mit Bäumen und einem kleinen, angelegten Hügel.

Dem theaterbegeisterten Priester Saier habe damals „wohl so etwas wie ein zweites Oberammergau“ vorgeschwebt, ergänzt der katholische Ötigheimer Ortspfarrer Erich Penka, der qua Amtes erster Vorsitzender des Vereins der Volksschauspiele ist. Der aus Kirchzarten bei Freiburg stammende Geistliche Saier habe um 1900 die Not mancher junger Arbeiter entdeckt – und deren musikalisches Potenzial nutzen wollen, erzählt Penka. Bereits als Kaplan habe Saier in großen Wirtshaussälen mit jungen Leuten christliches Theater inszeniert. Die Theaterbühne habe dem Volksschauspiel-Gründer als „erweiterte Kanzel“ gedient, bis heute lautet das Motto „Volk spielt für Volk“.

Für Saier sei das Theaterspielen mit seinen Schäfchen eine besondere Form der Seelsorge gewesen, erzählt Pfarrer Penka, der seit 20 Jahren gemeinsam mit einem künstlerischen Ausschuss über die Stückeauswahl des Theatervereins entscheidet. „Mit den Mitwirkenden konnte er soziale, ethische, philosophische und nicht zuletzt christliche Themen erarbeiten“, sagt er. Dabei setzte der Theater­pionier nicht auf Experimentiertheater, sondern auf verständliche, eher konventionelle Inszenierungen. Saier verfasste selbst ein alle Jahre wieder aufgeführtes Passionsspiel, das das Leben und Leiden von Jesus Christus nacherzählt.

Meist ausverkauft seien bekannte christliche Stücke wie „Quo Vadis“, „Ben Hur“, „Moses“, „Der Brandner Kaspar und das ewig’ Leben“, das Musical „Jesus Christ Superstar“, ein Stück über Franziskus und zuletzt 2017 „Luther“ gewesen, sagt Pfarrer Penka. Eine „überwältigende Zahl von 35000 Besuchern“ habe im Jahr des 500. Reformationsjubiläums das ökumenische Auftragsstück über den Reformator gesehen, in das sich die evangelische und katholische Kirche gemeinsam eingebracht haben. Die Ökumene sei für die Theatermacher in dem „sehr katholisch geprägten Ötigheim“ selbstverständlich, merkt Volksschauspiele-Geschäftsführer Moll an: Der Saisonauftakt startet jeweils mit einem ökumenischen Gottesdienst.

Der christliche Auftrag bleibe auch mit Blick auf eine immer glaubensfernere Gesellschaft für den Theaterverein eine Verpflichtung, betont Pfarrer Penka, der sich bereits als Student in Freiburg für das Laienspiel engagierte. Dabei nehme man es auch in Kauf, dass heute manche Besucher bei ausdrücklich christlichen Themen wegblieben. Dennoch gelinge es, christliche Stücke so gut zu präsentieren, dass es Zehntausende nach Ötigheim ziehe: „So können wir auch heute noch unterhaltsam eine Reihe für uns wichtige theologische Anliegen thematisieren, ohne die Menschen mit einer Predigt oder Vorlesung zu konfrontieren“, sagt der Kirchenmann.

Mehrere Generationen von Ötigheimer Bürgerinnen und Bürgern arbeiten Hand in Hand an diesem großen Ziel mit. So auch Matthias Götz, der bei „Der Name der Rose“ den düsteren Inquisitor Bernardo Gui mimt. Seit mehr als 40 Jahren ist Götz – im wirklichen Leben Zollbeamter – bei der großen Laientheatertruppe dabei, die sich nur ab und an Unterstützung von professionellen Kollegen holt. Besonders reizvoll sei es, auch tragende Rollen spielen zu dürfen, „die mancher Profi nie spielen kann“, sagt er.

Nicht immer leicht sei es, Job, Familie und das anstrengende Hobby zu vereinen, verrät Götz, der seine Texte manchmal auch auf dem Fitnesslaufband lernt. Viel Herzblut und persönliches Engagement brächten die Laiendarsteller ein, um in der Sommersaison ein beachtliches Programm auf die Beine zu stellen, ergänzt Stephanie Kuhn. Die 26-jährige Lehrerin ist die „Rose“, die den Klosternovizen Adson in dem mehr als dreistündigen mittelalterlichen Krimistück verführt. Wie viele der Laienmimen war auch sie mit ihrer Familie schon als kleines Kind auf dem Platz. Generationenübergreifend hätten sich unter den Ötigheimer Theaterleuten teilweise enge Freundschaften aufgebaut, erzählt sie.

Vom Schneidern der Kostüme über den Kulissenbau, die Musik mit eigenen Chören, Ballett und Orchestern über den Kartenverkauf bis hin zum Sektstand im Foyer nehmen die Mitglieder des Theatervereins alles selbst in die Hand. Zu mehr als 90 Prozent finanziert sich die Bühne über den Ticketverkauf und Sponsoren, zehn Prozent sind Zuschüsse des Landes Baden-Württemberg, des Landkreises Rastatt und der Gemeinde, erzählt Geschäftsführer Moll. Über mehrere Jahre wird das Programm im Voraus geplant, die teuren Bühnenbilder werden für drei, vier Jahre genutzt.

Bereits im Januar begannen die Proben für das Stück „Der Name der Rose“, das an fünf Terminen im August aufgeführt wird, erzählt Regisseurin Stanzel, die aus Karlsruhe stammt und in Bremerhaven lebt. In den letzten Wochen vor der Aufführung wurde bis zu fünfmal in der Woche geprobt – eine immense Kraftanstrengung für die Laienmimen. „Zu sehen, wie sich die Spieler entwickeln, macht Spaß“, beschreibt Stanzel, was sie an ihrer Arbeit reizt. Jeder einzelne Amateurschauspieler könne sich mit seinen Stärken einbringen. In der Regel seien sie flexibler als mancher Profi, lobt die Regisseurin: Ihnen falle es oft leichter, in eine Rolle einzusteigen oder sie zu wechseln.

Wie eine freundliche Dompteuse dirigiert die Regisseurin ihre große, vielköpfige Meute: Ihr entgeht nicht, wenn der Aufzug der Mönche ein bisschen zerfleddert ist: „Im Zweifelsfall halten Sie sich an ihren Vordermann.“ Stanzel läuft über den Platz, gibt den Schauspielern und den Bühnentechnikern Anweisungen, macht sich Notizen, pfeift auch mal durch die Finger, um sich Gehör zu verschaffen. Konzentriert sind die Akteure bei der Sache, die sich teilweise im Kostüm, teilweise in Freizeitkleidung zur mehr als dreistündigen Probe eingefunden haben. „Jeder Einzelne hat seine Aufgabe“, sagt im Anschluss der „Inquisitor“ Matthias Götz. „Ein Rädchen greift ins andere“, benennt die „Rose“, Stephanie Kuhn, was für sie die Magie ausmacht, ein Teil der großen Ötigheimer Theaterfamilie zu sein.

Der Name der Rose“ nach dem Bestsellerroman von Umberto Eco wird am 3., 4., 17., 18. und 25. August jeweils um 20 Uhr aufgeführt. Im kommenden Jahr werden drei Bühnenwerke gespielt: als Hauptstück der „Baron von Münchhausen“ sowie Friedrich Schillers „Die Räuber“ und das Märchen „Der gestiefelte Kater“. Weitere Informationen und Kartenservice gibt es beim Verein Volksschauspiele Ötigheim, Oberer Tellplatzweg 3, 76470 Ötigheim, Telefon 0?72?22?/?96?87?90 und E-Mail: info(at)nospamvolksschauspiele.de. KB

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