Das reiche kulturelle Erbe erkunden

Tag der jüdischen Kultur wird in 20 Ländern Europas begangen – Zeichen für Toleranz und Offenheit

Bauarbeiten bald beendet: Die ehemalige Synagoge in Deidesheim. Foto: LM

Ingenheim: Jüdischer Friedhof. Foto: VAN

Der Europäische Tag der jüdischen Kultur am 2. September ist nach Ansicht des rheinland-pfälzischen Antisemitismusbeauftragten Dieter Burgard eine gute Gelegenheit, sich über jüdische Tradition und jüdisches Leben zu informieren. Das Thema des Tages, der in über 20 Ländern Europas begangen wird, lautet in diesem Jahr „Storytelling“ (Geschichten erzählen). Vor allem die mündliche Überlieferung sei eine Konstante in der Geschichte und in der kollektiven Vorstellung des jüdischen Volkes, sagte Burgard.

Geschichten sind nach Burgard ein gutes Instrument, historisches Erbe zu verbreiten. Die biblischen Geschichten, die reichen lokalen Volksgeschichten und die Geschichten gegenwärtiger Migration böten eine jüdische Welt, die es verdiene, entdeckt zu werden. Zudem biete der Tag die Möglichkeit, in der Region greifbares und immaterielles jüdisches europäisches Erbe zu erkunden.

Nach Ansicht von Pfarrer Stefan Meißner sollten die Verdienste jüdischer Künstler und Denker für die deutsche Kultur stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Jüdische Mitbürger würden immer noch zu sehr entweder auf ihre Opferrolle im Nationalsozialismus oder auf die Politik des Staates Israel reduziert, sagte der Vorsitzende des Arbeitskreises Kirche und Judentum der Landeskirche anlässlich des Europäischen Tages der jüdischen Kultur. Außerdem könne die evangelische Kirche versuchen, mehr kulturelle Veranstaltungen gemeinsam mit jüdischen Gemeinden auszurichten.

Die beiden Hauptmotive des derzeitigen Antisemitismus in Deutschland seien das Bedürfnis, einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Holocausts durch die Nationalsozialisten zu ziehen, und die Kritik an der Politik des Staates Israel, sagte Meißner. Um die ganze Bandbreite der jüdischen Kultur aufzuzeigen, sollten deshalb mehr Konzerte mit jüdischer Musik, Ausstellungen jüdischer Maler oder Leseabende mit jüdischer Literatur angeboten werden.

Der „Freundeskreis ehemalige Synagoge Deidesheim“ ist einer der zahlreichen Vereine in der Pfalz und Saarpfalz, die sich in der Gedenkarbeit, aber auch für das Vermitteln jüdischer Kultur engagieren. Die Arbeiten an der durch einen Brand beschädigten ehemaligen Synagoge seien fast beendet, sagte der Vorsitzende des Freundeskreises, Achim Schulze. Die erste Veranstaltung nach den Bauarbeiten ist ein Konzert des Tel Aviv Wind Quintetts aus Israel in Zusammenarbeit mit der Villa Musica aus Mainz am Freitag, 5. Oktober, 19 Uhr.

Der etwa 100 Mitglieder starke Freundeskreis sei ein Zusammenschluss von Personen, die die Erhaltung und kulturelle Nutzung des Gebäudes der ehemaligen Synagoge zum Ziel haben, sagte Schulze. In einer Zeit, in der Radikalismus, Gewalt und Hass gegen Menschen anderer Hautfarbe, Herkunft und Religion offen zutage treten, sehen es die Mitglieder als ihre Aufgabe und demokratische Pflicht, ein Zeichen für Toleranz, Versöhnung und Offenheit zu setzen, heißt es in der Satzung. Leider habe der Freundeskreis derzeit keine regelmäßigen Kontakte zu Bürgern jüdischen Glaubens, sagte Schulze. Er hoffe jedoch, dass sich das im kommenden Jahr, wenn der Freundeskreis sein 25-jähriges Bestehen feiere, ändern werde.

Bereits in diesem Jahr feiert der Förderverein für jüdisches Gedenken Frankenthal seinen 25. Geburtstag. Gegründet wurde er 1992, ein Jahr später nahm er seine Arbeit auf. Geplant sind eine Ausstellung und Vorträge Anfang November. „Die Gedenkarbeit ist mein Lebensthema“, sagt Vorsitzender Herbert Baum. „Die Gewalt ist in den Menschen drin.“ Je nach politischem System bestehe immer die Gefahr, dass sich das Bahn breche. Diese Feststellung sei ihm bei Vorträgen in Schulen ein Anliegen.

Allerdings sei es als Verein schwierig, bei Schulen anzudocken. Nur wenige Lehrer würden auf ihr Angebot zurückkommen, wenn es um Unterstützung bei einer Fahrt zum Konzentrationslager Osthofen gehe. Überhaupt müsse die Gedenkarbeit versuchen, an die Lebenswirklichkeit der jungen Leute heranzukommen, sagt Baum. Filme mit Zeitzeugen seien eine gute Möglichkeit. Am 2. September bietet der Verein drei Führungen um 11, 15 und 17 Uhr an. Die erste widmet sich den verlegten Stolpersteinen in Frankenthal, auf der Zweiten werden die zwei Friedhöfe besucht, auf denen auch Juden beerdigt wurden. Um 17 Uhr ist ein historischer Rundgang durch die Stadt geplant.

Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Arbeitskreis Judentum im Wasgau laden für Sonntag, 2. September, zu einem Rundgang durch das jüdische Dahn ein. Treffpunkt ist um 10 Uhr am Denkmal für die Gefallenen der Weltkriege in der Ortsmitte. Entlang mehrerer Stolpersteine geht es zur Synagoge, wo Judaica gezeigt werden. Am Nachmittag wird eine Führung in Busenberg angeboten. Stationen sind die Reste der Mikwe, zwei israelitische Schulgebäude sowie der jüdische Friedhof. Treffpunkt ist um 14 Uhr an der katholischen Kirche.

Der Arbeitskreis „Ludwigshafen setzt Stolpersteine“ stecke seine Energie nicht in den Gedenktag, sondern in die Fachtagung „Building memories“ Ende September im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen, erklärt Vorsitzende Monika Kleinschnitger. Dort wird das Motto „Geschichten erzählen“ beleuchtet. Schließlich ist der Tag als Auftakt für ein großes Projekt gedacht: Am 9. November soll zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht die Oper „Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung“ zur Aufführung kommen. Das Stück hatten Häftlinge im Konzentrationslager Theresienstadt aufgeführt. Beteiligt sind das Pfalztheater Kaiserslautern, die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz – und Schüler. Klassen der Berufsbildenden Schule Ludwigshafen werden sich um das Bühnenbild kümmern, andere Schüler übernehmen die Gestaltung des Programmhefts.

Gedenkarbeit sei immer wirkungsvoll, wenn es nicht nur um die Zahl der Opfer gehe, sondern individuelle Schicksale in den Vordergrund rückten, sagt Kleinschnitger. „Letztlich interessiert sich der Mensch immer für den Menschen.“ Im kommenden Jahr wiederholt werden soll eine Aktion, bei dem Besucher Lebensgeschichten jüdischer Bewohner recherchieren konnten – in einem leer stehenden Geschäft in dem Gebäude, in dem sie lebten. Selbstverständlich sei es wichtig, das Judentum nicht nur von der Seite des Holocausts darzustellen. Das bedeute aber nicht, dieses Thema außen vor zu lassen.

In Ingenheim kümmern sich rund zehn Personen aktiv um die Pflege der jüdischen Geschichte in dem Ort in der Südpfalz, der Mitte des 19. Jahrhunderts die größte jüdische Gemeinde in der Pfalz beherbergte. Pfarrer Ralf Piepenbrink und seinen Mitstreitern ist vor allem der jüdische Friedhof ein Anliegen. Von den rund 1200 erhaltenen Grabsteinen haben noch rund 880 entzifferbare Inschriften. Doch der Zahn der Zeit nagt an den Sandsteinen. Notwendig wäre daher eine Fotodokumentation, um die historischen Zeugnisse nicht für immer zu verlieren. Die Kosten von rund 60000 Euro wollte Piepenbrink mithilfe eines Antrags auf Aufnahme ins Leader-Projekt schultern. Allerdings blieben dabei 45 Prozent der Kosten bei der Kommune hängen, weshalb diese erst einmal nicht zugestimmt habe. Jetzt werden Sponsoren gesucht. Über Führungen und Geburtstage seien 5500 Euro hereingekommen. „Aber das reicht natürlich lange nicht.“

Regelmäßig werden Siebtklässler des Gymnasiums Bad Bergzabern über den Friedhof und durch das Dorf geführt. Schön fände Piepenbrink Plaketten mit QR-Codes, damit auch jenseits von Führungen die Schicksale ehemaliger Bewohner lebendig würden. In der ehemaligen jüdischen Metzgerei etwa werden heute Döner verkauft. flor/koc

Internet: www.lagrlp.de

Bernhard H. Gerlach und Stefan Meißner (Hg.): Jüdisches Leben in der Pfalz – Ein Kulturreiseführer. Verlagshaus Speyer, 2013. 120 Seiten, 12,95 Euro. ISBN 978-3-939512-58-5

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