Nächstenliebe heißt die Botschaft

Redaktionsgespräch mit Heiner Geißler über die Bedeutung der Bergpredigt und den Zustand der Kirchen

Harte Kritik an Kirche und Gesellschaft: Chefredakteur Hartmut Metzger im Gespräch mit Heiner Geißler. Fotos: Landry

Herr Geißler, Sie nehmen immer wieder auf die Bergpredigt Jesu Bezug. Würde Jesus heute noch genau dasselbe sagen, was er damals gesagt hat? Immerhin wurde er für diese radikale Haltung ans Kreuz geschlagen.

Ja, das würde er heute natürlich genauso sagen: Er hat es gesagt, und das ist maßgebend. Ob Gott existiert, weiß kein Mensch, an Gott kann man nur glauben. Und es gibt an diesem Glauben auch erhebliche und begründete Zweifel. Aber man kann trotz dieser Zweifel Christ sein. Denn zwei Fakten gibt es. Wir wissen, dass Jesus gelebt hat. Und wir wissen, was er gesagt hat. Das ist das Entscheidende.

Leider spielt die Bergpredigt heute im kirchlichen und öffentlichen Leben nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Gebot der Gottesliebe. Doch Gottesliebe ist nicht besser oder wichtiger als das Gebot der Nächstenliebe. Das sagt Jesus ausdrücklich, sie ist gleichwertig zur Gottesliebe. Aber die Gottesliebe hat heute den absoluten Vorrang: Liturgie, Feierlichkeit, Messgewänder, Posaunenblasen von den Türmen unserer Kirchen, die immer leerer werden. Die andere, eigentliche Botschaft der Nächstenliebe wird abgeschoben in die Caritas und in die Diakonie. Das ist ein ganz schwerer Fehler. In den Ordinariaten und Büros der Oberkirchenräte regieren die Betriebswirte.

Müsste die Bergpredigt heute anders formuliert werden?

Nein, Jesus spricht die Menschen an, wie sie sind: in ihrer Armut, ihrem Hunger, ihrer Trauer, ihrer Verfolgung – eben im Elend der Welt. Und in Matthäus 25 hat er erklärt, was das heißt: Wer zu mir gehören will, der muss den Hunger bekämpfen, den Menschen Trinkwasser geben, den Obdachlosen eine Wohnung, Flüchtlinge aufnehmen, den Frierenden Kleider geben, Kranke pflegen und Gefangene besuchen. Diese Forderungen sind die Konkretion der Nächstenliebe. Moderner geht es nicht. Das ist der Kern der jesuanischen Botschaft. Eine glänzende Botschaft! Es ist eine schwere Verfehlung der maßgeblichen Theologen und Kirchenführer, dies nicht in der heutigen Welt als die Hoffnung für die Menschen zu präsentieren. Franziskus und Bedford-Strohm allein schaffen es nicht. Das Gedenken an die Reformation darf sich nicht erschöpfen in Reden und Gebeten, Liedern und Musik und in was weiß ich allem. Die Kirchen müssen Widerstand leisten gegen die Mächte dieser Erde. In der Welt des Kapitalismus, der Investmentbanker, einer gigantischen Finanzindustrie mit ihren unchristlichen Leitbildern „Egoismus, Gier, Geld, Geiz, Erfolg, Dividende, Profit, Rang und Titel“ ist Jesus eine totale Provokation und die Verkörperung von Menschlichkeit und Barmherzigkeit.

Welche Bedeutung hat die Bergpredigt heute?

Die Bergpredigt ist auch der Aufruf zu einer neuen, friedlichen und gerechten Weltordnung. Doch das machen die Kirchen nicht. In einer Welt mit einem täglichen Umsatz von zwei Billionen Dollar an den Börsen müsste endlich eine Börsenumsatzsteuer eingeführt werden. Es gibt auf der Erde Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.

In Sachen Provokation sind Sie Experte. Mit Ihren Reden provozieren Sie vor allem die Konservativen innerhalb und außerhalb Ihrer Partei. Stimmt also der Spruch: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche?

Nein, konservativ war ich nie. Ich bin ein christlicher Demokrat, das ist was anderes.

Was ist ein christlicher Demokrat?

Ein christlicher Demokrat ist jemand, der seiner Politik das christliche Menschenbild zugrunde legt. Das bedeutet nicht, dass es christliche Politik gibt. Das Evangelium gibt uns keine Gebrauchsanleitung für politisches Handeln, aber das Evangelium gibt uns ein Bild vom Menschen. Und dieses Bild unterscheidet sich ganz wesentlich von den Menschenbildern anderer Religionen und anderer Ideologien. Ein Mensch war nur Mensch für die Marxisten, wenn er zur richtigen Klasse gehörte, für die Nationalsozialisten zur richtigen Rasse. Bei den Nationalisten muss man zum deutschen Volk gehören. Bei den Fundamentalisten muss man die richtige Religion haben, sonst wird man ausgepeitscht wie in Saudi Arabien oder wie bei uns vor 400 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und bei wieder anderen Fundamentalisten darf man nicht das falsche Geschlecht haben, darf man keine Frau sein. Der Mensch wird zum Kostenfaktor degradiert. Er gilt umso mehr, je weniger er kostet. Und er gilt umso weniger, je mehr er kostet. Menschen, die zur falschen Kategorie gehörten, wurden liquidiert, vergast, zu Tode gefoltert, gesteinigt oder verhungerten. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Menschenbild gibt uns das Evangelium. Und diese Chance dürfen sich die Kirchen nicht aus der Hand nehmen lassen.

Wenn das Evangelium Richtschnur für politisches Handeln ist, in welcher ­Partei wäre Jesus dann heute?

Entschuldigung, aber das ist keine adäquate Frage. Wenn Jesus hier wäre, dann würde die heutige Parteienlandschaft anders aussehen. Ich nehme für die CDU in Anspruch, dass sie etwas Großartiges realisiert hat. Sie hat nach der von den Nationalsozialisten angezettelten Katastrophe die politischen Folgen der Reformation überwunden. Die Reformation ist ja nicht nur eine theologische Reform gewesen, sondern hatte politische Folgen: Religionskriege, Kulturkämpfe und das Gegeneinander von Katholiken und Evangelischen in der Weimarer Republik, wodurch es die Nazis besonders leicht hatten. Und nach dieser Katastrophe haben evangelische und katholische Christen gesagt: Wir können zwar die religiöse, theologische Spaltung nicht überwinden, das müssen die Theologen machen, aber wir können die politische Spaltung überwinden, dass Evangelische und Katholische in Zukunft zusammenarbeiten. Und das ist der CDU gelungen. Am Anfang haben die Evangelischen oft nicht an diese Union geglaubt, aber sie hat sich durchgesetzt. Heute weiß man nicht mehr, welche Konfession die Regierungsmitglieder haben; oder es ist egal. Katholische und evangelische Christen arbeiten heute in allen Parteien zusammen. Aber die CDU hat es durchgesetzt. Denn der konfessionelle Gegensatz war nach dem Krieg nach wie vor stark vorhanden. Diese Union ist zum Beispiel ein Ergebnis des christlichen Menschenbilds.

Wenn Jesus heute wirklich unter uns Menschen wäre, wo würde er stören?

Sie haben völlig Recht; er würde stören. Wahrscheinlich würde er am meisten die Kirchen stören. Dostojewski hat ja diese Geschichte geschildert, wie Jesus in Sevilla Anfang des 17. Jahrhunderts plötzlich auf den Plätzen erscheint und predigt, und der Erzbischof von Sevilla lässt Jesus verhaften. Und dann trifft er ihn im Gefängnis, und die erste Frage des Kardinals an Jesus lautet: Warum störst du uns? Wenn Jesus heute da wäre, würde er den Kirchen den Vorwurf machen: Ihr passt euch an. Ihr müsst für meine Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit demonstrieren und auf die Straße gehen.

Die Kirche würde sich an Jesus stören?

Ja! Er würde ihnen sagen, dass die Bergpredigt eine politische Dimension hat. Die Nächstenliebe ist keine Gefühlsduselei, sondern – das zeigt die Geschichte des Samariters – eine knallharte Pflicht. Wir müssen denen helfen, die in Not sind. Das kann sogar der Feind sein!

Also ist für Sie die Bergpredigt Richtschnur für politisches Handeln?

Selbstverständlich. Das muss sie sein! Ihr Inhalt ist ja klar. Ich, Sie, wir alle sind die Nächsten für die, die in Not sind. Jesus kannte keine Grenzen, auch keine nationalen Grenzen. Diese Pflicht, zu helfen, ist global und kann nur erfüllt werden, wenn die Botschaft befolgt wird: Geht hinaus und verkündet das, was ich euch gesagt habe. Nur so können wir die ungerechte Weltordnung verändern.

Wann und wo haben Sie sich selbst in ihrer politischen Karriere an die Worte Jesu gehalten?

Ich war ja 13 Jahre lang Minister: Sozialminister, Familienminister, Frauenminister, Jugendminister, alles Mögliche. Ich habe meine Entscheidungen immer an der Pflicht orientiert, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Ich hatte diese große Chance, die nicht viele Menschen haben. Ich konnte Gesetzte vorschlagen, die den Menschen wirklich geholfen haben: zum Beispiel das Erziehungsgeld, die Anerkennung von Erziehungsjahren, die Sozialstationen, der Kündigungsschutz für Schwangere. Das hat Millionen von Menschen geholfen, ein besseres Leben zu haben. Das kann nicht jeder, aber jeder kann in seinem Bereich dazu beitragen, dass die Lebensbedingungen der Menschen, für die er Verantwortung hat, sich verbessern: in der Familie, in der Gemeinde und im Unternehmen. Beim Roten Kreuz, bei der Jugendfeuerwehr oder bei Amnesty, ­Attack, Greenpeace, Caritas oder Diakonie können die Menschen sich einsetzen, damit das Leid auf dieser Erde zurückgedrängt wird. Solches Engagement ist auch eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf Erden. Anders als durch eigenes Engagement können wir die Frage nicht beantworten: Warum versteckt sich Gott?

Es gibt provokante, auch verletzende Aussagen von Ihnen als Generalsekretär der CDU, die nicht so sehr zu diesen Aussagen passen.

Was diese Punkte anbelangt, habe ich überhaupt kein Problem mit mir selber. Ich habe eher ein Problem mit mir, dass ich nicht noch stärker auf die Pauke gehauen habe. Auch die Kirchen müssten dies stärker tun. Jesus und Luther zum Beispiel, die haben ja Streit angefangen und Krach gemacht. Im Evangelium hat Jesus auf jeder zweiten Seite sich mit denen angelegt, die an der Macht waren. Mit den Pharisäern, mit den Sadduzäern, mit den Hohepriestern. Er stand an der Seite der kleinen Leute, der ausgestoßenen Frauen, der Kranken und der Behinderten. Denen hat er geholfen, und das hat er mit Streit und Kampf bewerkstelligt. Das alles findet heute, vor allem von­seiten der Kirche, nicht statt.

Vielleicht liegt das an der zu engen Verbindung von Kirche und Politik heutzutage?

Das glaube ich nicht, so eng ist die Verbindung nicht. Und Angst um ihre Kirchensteuer müssen die Kirchen auch nicht haben. Das ist gesetzlich geregelt. Das eigentliche Problem ist, dass die Kirchen nicht mehr das verkünden, was Jesus gesagt hat.

Wie kam es, dass sich die Kirchen von der Botschaft entfernt haben?

Das ist die Schuld der Theologie. Die Kirchen haben Gottesbilder ermöglicht in ihrer Theologie, die ein Hindernis sind für die Botschaft der Nächstenliebe. Beide Kirchen haben die Botschaft von Jesus spiritualisiert. Es gab nur noch die vertikale Bedeutung, also die Beziehung des Menschen zu Gott. Und die wurde zu Tode theologisiert, übrigens auch bei Luther und vor allem durch Benedikt XVI. Da war nur noch von der Verbindung des Menschen zu Gott die Rede. Aber dass das Evangelium von Jesus und die Bergpredigt eine horizontale Dimension haben, auf die Breite und Vielfalt der Menschen und deren Schicksal zielen, ist fast völlig außer Acht geraten.

Wie kann eine solche horizontale Dimension denn konkret aussehen?

Das beste Beispiel ist, das was vor 60 Jahren geschehen ist. Da ist wirklich ein Konzept auf der Basis des christlichen Menschenbilds in der Politik vorgeschlagen und realisiert worden. Die soziale Marktwirtschaft war ein geistiges Bündnis des Ordoliberalismus, der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Daraus ist eine Wirtschafts- und Sozialpolitik entstanden, die ein ethisches Fundament hatte, bis auf den heutigen Tag. Und deswegen geht es den Menschen in Deutschland auch besser als in Staaten, in denen es Klassenkampf gibt, oder der ökonomische Egoismus, wie jetzt in den Vereinigten Staaten, zum Kern der Gesellschaft erklärt wird. Immer wenn der Gedanke der Union vorherrscht, geht es den Menschen besser: der Union zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der Union zwischen Gesunden und Kranken, in der die Gesunden ihre Beiträge bezahlen, damit die Kranken versorgt werden können. Und der Union zwischen Alten und Jungen und umgekehrt. Dieser christliche Gedanke ist in Deutschland weitgehend realisiert worden; immer noch nicht vollständig, und er wird auch immer wieder angegriffen. Aber es ist diese Idee, die wir auf der ganzen Welt durchsetzen müssen. Und das geht nur mit der Politik. Doch die Politik allein kann das nicht, sie braucht die Unterstützung der geistigen Mächte auf dieser Erde, und dazu gehören die beiden christlichen Konfessionen.

Brauchen wir dazu alle beide? Würde nicht eine reichen?

Wir brauchen keine organisatorisch einheitliche Kirche. Wir müssen das bedenken, was Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils gesagt hat: Wir brauchen im Notwendigen die Einheit, im Zweifel die Freiheit, in allem die Liebe. Und das Notwendige in der Botschaft des Evangeliums ist die Verpflichtung, den Pfusch auf dieser Erde Stück um Stück zu vermindern und die Lebensbedingungen der Menschen, und zwar aller Menschen, zu verbessern. Das erste Gebot für die Kirchen ist: denen zu helfen, die in Not sind. Das zweite notwendige Gebot ist natürlich auch das theologische: dass alle anerkennen, dass durch die Taufe Jesu jeder auch Christ ist. Benedikt XVI. hat trotz des Zweiten Vatikanischen Konzils das Gegenteil behauptet. Benedikt hat schwerwiegende Fehler gemacht. Denn wenn alle dieselbe Taufe haben und Christen sind, dann müssen sie auch das Abendmahl gemeinsam feiern können. Nächstenliebe und Abendmahl, das ist es, was beide Kirchen zusammen machen müssen und nicht nur jede für sich allein. Viele andere Fragen in der katholischen Kirche, die nach wie vor ungelöst sind, müssen erst noch erarbeitet werden. Wenn die katholische Kirche die Bergpredigt ernst nähme, wäre es völlig ausgeschlossen, dass in dieser großen Kirche die Frauen nach wie vor diskriminiert werden, indem man ihnen die kirchlichen Ämter vorenthält und sich dafür auch noch auf Gott beruft. Die Theologie der katholischen Kirche den Frauen gegenüber ist Blasphemie, ist eine Gotteslästerung. Es ist eine gotteslästerliche Theologie, wenn sie für ihre Diskriminierung der Frauen Gott in Anspruch nimmt.

Sie argumentieren im Grunde genommen immer wieder wie ein Protestant. Warum sind Sie eigentlich nicht evangelisch?

Ich bin nicht evangelisch, weil ich katholisch bin. Ich bin katholisch getauft, warum soll ich evangelisch werden? Jeder intelligente Katholik ist in seinem Inneren immer auch ein Protestant. Ich kann ein gut katholischer Christ sein. Aber ich orientiere mich an der Bergpredigt und nicht an der Glaubenskongregation im Vatikan oder an irgendwelchen Synodenbeschlüssen.

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