Den Vater Rhein ins Bett geschickt

Tullas Flussregulierung beginnt vor 200 Jahren • von Klaus Koch

Heute fließt der Rhein, wie hier bei Speyer unter der Autobahn 61, im festen Bett und ist eine der verkehrsreichsten Binnenwasserstraßen der Welt. Foto: Landry

Der Militär und Ingenieur Johann Gottfried Tulla. Foto: wiki

Künstler und Techniker haben eine ganz unterschiedliche Sicht auf die Welt. Das war schon vor zwei Jahrhunderten so. Im Jahr 1801 schrieb der Dichter Friedrich Schiller in seinen Betrachtungen über „Das Erhabene“: „Wer verweilt nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft, als bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens?“ Und der Dichterfürst beklagt die Kanalisierung des „schnurgerechten Holland“ als „sauren Sieg der Geduld über das trotzigste der Elemente“.

Johann Gottfried Tulla, einer der bedeutendsten Ingenieure des beginnenden 19. Jahrhunderts, sah das genau umgekehrt: „In der Regel sollten in kultivierten Ländern die Bäche, Flüsse und Ströme Kanäle sein und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen.“ Die Maxime, dass „kein Strom oder Fluss, also auch nicht der Rhein, mehr als ein Flussbett nötig“ habe, machte der am 20. März 1770 in Karlsruhe geborene Pfarrerssohn zu seiner Lebensaufgabe: Er begradigte den Oberrhein. Ein fast 60 Jahre andauerndes Großprojekt, das Norbert Rösch vom Karlsruher Institut für Technologie in einem Fachvortrag als „eine der herausragenden ingenieurtechnischen Leistungen des 19. Jahrhunderts im südwestdeutschen Raum“ bezeichnet.

Schon Jahrhunderte vor Tulla war die Lage wegen ständig wiederkehrender Überschwemmungen für die Menschen am Oberrhein, vor allem zwischen Karlsruhe und Speyer, immer prekärer geworden. Die Ursachen dieser Naturkatastrophen, der einige Dörfer und sogar Handelsstädte zum Opfer fielen, reichen bis ins Mittelalter zurück. Vermutlich wegen mehrerer Vulkanausbrüche kam es ab dem 13. Jahrhundert in Europa zu einer sogenannten kleinen Eiszeit, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts anhielt. Entsprechend viel Eis bildete sich, das zusammen mit heftigen Niederschlägen nach der Schmelze den Rhein in regelmäßigen Abstän­den bedrohlich ansteigen ließ. Zwischen Basel und Karlsruhe floss der Strom mit vielen Flussarmen auf einer Breite von bis zu drei Kilometern, zwischen Karlsruhe und Mainz durchströmte er die Niederungen in weit ausholenden Schlingen.

Eigentlich seien die Rheinniederungen bis zur Regulierung durch Tulla nicht bewohnbar gewesen, schrieb Horst J. Tümmers in seinem 1994 im C.H. Beck-Verlag erschienenen Erlebnisbuch „Der Rhein“. Doch der Mensch war damals wie heute vor allem am schnellen Erfolg interessiert. Der mit Rheinschlick bedeckte Boden war sehr fruchtbar, und auch der Fischreichtum zog die Menschen immer näher an den Fluss.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Lage endgültig unhaltbar geworden. Immer mehr Menschen wohnten am Rhein, der gleichzeitig immer häufiger weite Gebie­te überflutete. Die Alternative war klar: Entweder mussten die Menschen das Auenland aufgeben oder es technisch tief greifend verändern. Außerdem sorgten die Hochwasser für internationale Verwicklungen. Der Rhein diente als Grenze zwischen Baden und Frankreich. Da er ständig sein Bett verlegte, wechselten Inseln und Grundstücke laufend die Nationalität. Regelmäßig mussten sich Kommissionen aufmachen, um die Landesgrenze neu festzulegen.

Tullas Stunde rückte also näher. 1809 legte er erste Pläne für eine Rheinkor­rektur vor. Mit Durchstichen sollten die Flussschlingen oberhalb von Karlsruhe abgetrennt und der Rhein in ein bis zu 250 Meter breites Bett gezwängt werden. Dammanlagen sollten Überschwemmungen vermeiden und den Strom zur Tiefen­­­ero­sion zwingen, was den Wasserspiegel senken und die Niederungen trockenlegen würde. Doch erst nach dem Wiener Kongress, als auf der linken Rheinseite nicht mehr Frankreich, sondern die bayrische Pfalz lag, nahm das Projekt Fahrt auf. Spätestens das enorme Hochwasser, das im Januar 1816 die Gemeinde Wörth heimsuchte, sorgte für ausreichend Leidensdruck. Schließlich unterzeichneten die badische und die bayerische Regierung am 26. April 1817 einen Vertrag zur Rheinregulierung. Tulla konnte loslegen.

Doch Großprojekte brachten schon vor 200 Jahren Wutbürger hervor. Als in Knielingen mit dem ersten Durchstich begonnen werden sollte, fürchteten die Bürger um ihre Fischgründe und leisteten Widerstand. Er wurde mit militärischer Gewalt niedergeschlagen. Überhaupt war das ganze Projekt ziemlich militärisch geprägt. Wie die meisten Wasserbauingenieure seiner Zeit entstammte Tulla dem Militär, was das Vokabular seiner Schriften erklärt, mit denen er die Arbeiten begleitete. Der Rhein ist darin der „Feind“, vor dessen Angriffen die Menschen verteidigt werden müssen. Mit einem „Generalplan“ wollte er den Strom bändigen und zähmen.

Auch nach der Gegenwehr der Knielinger kam es im Laufe der Arbeiten immer ­wieder zu Protesten. Speyer und Mannheim wehrten sich erfolgreich gegen die Pläne, den Rhein weiträumig am Stadtgebiet vorbeizuleiten. Beide Städte wären so ihre Häfen losgeworden. Und Einsprüche von Hessen und Preußen gegen die bestehenden Pläne ersparten Altrip das Schicksal, mit einem einzigen Durchstich rechtsrheinisch zu werden. Doch trotz dieser Proteste kam die Sache voran. Am Ende, im Jahr 1876, war der Rhein zwischen Basel und Bingen 81 Kilometer kürzer, die abgetrockneten Auen konnten landwirtschaftlich genutzt werden, der Oberrhein blieb für einige Zeit weitgehend von Hochwasser verschont, und durch die trockengelegten Sumpfgebiete verschwand die Malaria.

All diese positiven Ergebnisse hatte Tulla in seinen Streitschriften vorhergesagt. Erlebt hat der Ingenieur das Ende seines Lebenstraums nicht. Er starb am 27. März 1828 in Paris, wo er sich erfolglos an einem Steinleiden behandeln ließ. Doch in der Erinnerung der Menschen am Oberrhein bleibt die Rheinbegradigung für immer mit seinem Namen verbunden. Dankbar benannten Kommunen Schulen, Straßen und öffentliche Gebäude nach ihm. Und Baden kaufte sogar auf ewig sein Grab auf dem Pariser Friedhof Montmartre.

Dennoch gilt Tullas Lebensregel „Der Tadel wird vergehen, das Gute bestehen“ nicht uneingeschränkt. Die negativen Langzeitfolgen der Rheinzähmung sind nicht ohne, wie Christoph Dembek 2012 in seinem Beitrag „Wilde Flusslandschaft versus wertvolle Kulturlandschaft“ in dem Geschichtsblog „LBSHistoryBlog.de“ sehr kenntnisreich darlegt. Das Hochwasserrisiko ist nicht verschwunden, sondern hat sich rheinabwärts auf die Städte Koblenz, Bonn und Köln verlagert. Die enorm beschleunigte Fließgeschwindigkeit hat den Fischreichtum am Oberrhein stark vermindert, und durch das Trockenfallen der Auen verschwanden viele Tier- und Pflanzenarten.

Inzwischen ist die Gegend am Oberrhein vor allem ein riesiges Industriegebiet und der Hauptstrom des Rheins eine der verkehrsreichsten Binnenwasserstraßen der Welt. Daran ist natürlich heutzutage grundsätzlich nichts zu ändern. Auch der Hochwasserschutz für die sogenannten Unterlieger ist am Oberrhein nur begrenzt möglich. Zwar sind Rückhalteflächen geplant, aber der Strom fließt lange, bis er zum Mittel- oder Niederrhein wird, und zufließende Nebenflüsse tun ihr Übriges, um den fröhlichen Rheinländern Bange zu machen.

Durchaus intensiv werde jedoch daran gearbeitet, die mit dem Ausbau verbundenen negativen ökologischen Folgen zumindest teilweise wieder rückgängig zu machen, teilte das Mainzer Umweltministerium mit. Wo möglich sollen die abgeschnittenen Altrheinarme wieder an den Hauptstrom angeschlossen werden. Das Land wolle „zwischen Wasser und Deich wieder Wildnis zulassen“. Schließlich stellten Gewässer und Auen mit die artenreichsten Lebensräume dar. Projekte zur Auenentwicklung seien sogar europarechtlich geboten.

An einigen Stellen hat die Rheinregulierung allerdings auch ökologisch Sinnvolles ergeben. Zwischen Worms und Mainz erfolgte 1828/1829 nach Tullas Plänen unter Wasserbauingenieur Claus Kröncke der Durchstich bei Guntersblum. Die Binnenhalbinsel Kühkopf wurde so zur Flussinsel. Und mit der Zeit entstand dort – zusammen mit anderen Rheininseln und der Halbinsel Knob­lochs­aue – das größte Naturschutzgebiet Hessens. Mit dem Schwarzmilan als Symboltier versehen, trägt dieses etwa 2400 ­Hektar große Gebiet heute stolz das Prädikat Europareservat. Die dortige geistreiche Unordnung hätte Friedrich Schiller gewiss gefallen.

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