Die Dokumentation: Schöpferische Gewaltlosigkeit

Die Alternativen Jesu zum Freund-Feind-Denken anhand dreier Beispiele in der Bibel • von Andreas Ebert

Bergpredigt: Jesus rät nicht zum passiven Erdulden von Gewalt. Foto: epd

Es gibt zwei völlig unterschiedliche Weisen, die Welt zu betrachten, sagt der norwegische Friedensforscher Johan Galtung. Zum einen kann man die Dinge so sehen: Es gibt irgendwo auf der Welt das Böse, Feinde oder den Feind, der Gewalt ausüben will. Warum? Weil er böse ist. Was kann man dagegen tun? Das einzige Mittel gegen das Böse ist Stärke. Das einzige Mittel gegen die Gewalt ist noch mehr Stärke. Und wenn man das Böse nicht verhindern kann, muss man es vernichten. Hat man diese Stärke, dann kann man sich ein wenig sicherer fühlen auf der Welt.

Aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet, sagt Johan Galtung, sehen die Dinge so aus: Es gibt Konflikte, die kompliziert sind. Wären sie einfach, hätte man sie gelöst. Konflikte münden – aus Ungeduld oder Frustration – häufig in Gewalt. Erst in Gedanken, dann in Worten, schließlich in der Tat. Um Konflikte zu überwinden, muss man gewohnte Denkbahnen verlassen und schöpferische Strategien entwickeln, mit mehr als einer Lösungsmöglichkeit. Wenn man das ernsthaft betreibt, dann erreicht man möglicherweise Frieden. Dann gibt es keine Gewinner und Verlierer mehr, sondern alle gewinnen.

Jesus ist darin ein Meister. Er bietet Alternativen zum Freund-Feind-Denken und zur Gewalt. Er beherrscht diesen zweiten Blickwinkel, der Konflikte akzeptiert und kreativ angeht. Er zeigt völlig andere, schöpferische Strategien, wie Friede werden kann. In der Bergpredigt sagt er: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr das Böse nicht mit Bösem bekämpfen sollt, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir einen Rechtsstreit hat und dir deinen Rock nehmen will, dem lass auch deinen Mantel. Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, so geh zwei …“

Man hat diese Worte Jesu oft so gedeutet, als empfehle er, sich alles gefallen zu lassen, sich nicht zu wehren, Unrecht zu schlucken. Hat Jesus das gemeint? Der amerikanische Neutestamentler Walter Wink zeigt, dass die drei Beispiele, die Jesus anführt, keineswegs die Aufforderung enthalten, Unrecht hinzunehmen. Es gibt drei mögliche Reaktionen auf das Böse und auf Gewalt: 1. Passivität, 2. Gegengewalt und 3. aktive, schöpferische Gewaltlosigkeit. Jesus hat Passivität ebenso abgelehnt wie Gegengewalt. Um seine Worte zu verstehen, muss man allerdings genauer nachfragen, in welcher politischen und gesellschaftlichen Situation Jesus gelebt und geredet hat und wer seine Hörerinnen und Hörer waren.

Sehen wir uns seine drei Beispiele an: „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die linke hin!“ Wieso ausgerechnet die rechte Wange? Wie kann man jemandem auf die rechte Wange schlagen? Versuchen Sie es einmal (wenn Sie Rechtshänder sind)! Das geht nur mit der rechten Rückhand, nicht mit der geöffneten Hand oder der Faust. Jemanden mit der Rückhand zu schlagen, war seinerzeit Zeichen höchster Verachtung. So schlugen Herren ihre Sklaven, Männer ihre Frauen, römische Soldaten die Juden.

Einen Gleichrangigen zu schlagen, war verboten und wurde drakonisch bestraft. Schlug man ihn obendrein mit der Rückhand, verhundertfachte sich die Strafsumme! Die Zuhörer Jesu gehörten zum großen Teil zur Gruppe derer, die solch erniedrigende Schläge kannten. Ausgerechnet ihnen empfiehlt Jesus, die andere Backe hinzuhalten. Warum? Weil genau dies dem Unterdrücker die Möglichkeit nimmt, sie zu demütigen. Wer selbstbewusst die andere Wange hinhält, gewinnt die Würde zurück, geht auf Augenhöhe. Das bringt den Angreifer in Schwierigkeiten. Schlägt er mit der Faust auf die rechte Backe des Gegenübers, dann erkennt er ihn als Ebenbürtigen an. Sein Ziel, einen Mitmenschen zu demütigen, hat er verfehlt. Diese Irritation kann unter Umständen sogar dazu führen, dass er die Faust sinken lässt. Die Eskalation wird gestoppt. Jesus lädt also zunächst dazu ein, nicht passiv zu bleiben, sondern die Initiative zu ergreifen, zur eigenen Menschenwürde zu stehen, den Teufelskreis der Demütigung zu durchbrechen und sich zu weigern, die unterlegene Position anzunehmen.

Die zweite Szene spielt sich vor Gericht ab. Jemand wird verklagt, seinen Mantel herzugeben. So steht es jedenfalls im Lukasevangelium: „Wer dir den Mantel wegnimmt, dem verweigere auch das Hemd nicht!“ Bei Matthäus heißt es: „Wer dir das Hemd wegnimmt, dem gib auch den Mantel!“ Lukas ist hier offensichtlich präziser; denn es war gang und gäbe, Armen den Mantel als Pfand wegzunehmen. Allerdings musste man dieses Pfand jeweils am Abend zurückgeben, denn der Arme hatte sonst nichts, um sich nachts vor der Kälte zu schützen. Andererseits hatten nur die Ärmsten der Armen nichts als ihr Obergewand, um es einem Prozessgegner als Pfand zu hinterlassen. Den Zuhörerinnen und Zuhörern Jesu dürfte diese Situation vertraut gewesen sein, zumal Verschuldung zur Zeit Jesu an der Tagesordnung war.

Die Römer trieben horrende Steuern ein, um ihre Kriege zu finanzieren. Der gebeutelte Mittelstand presste die Ärmsten aus, um selbst zu überleben. Wieso rät Jesus ausgerechnet den Armen, auch noch die Unterwäsche herzugeben? Das hieße ja, splitterfasernackt aus dem Gericht zu laufen! Welch eine groteske Szene: Hier steht der Gläubiger mit deinem Mantel in der einen und mit deiner Unterwäsche in der anderen Hand. Und der Schuldner hat den Spieß umgedreht: „Du willst meinen Mantel? Da – nimm auch mein letztes Hemd! Ich habe nur noch mein nacktes Leben! Willst du das auch noch?“

Nacktheit war in Israel absolut tabu. Aber die Schande traf nicht den Entblößten, sondern die Person, die solch eine Entblößung verursacht hat. Der Gläubiger steht also als derjenige da, der er ist: kein seriöser Kreditgeber, sondern ein Halsabschneider, der andere in bitterste Not stürzt. Er ist demaskiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie Lächerlichkeit. Die Selbstentblößung der Schuldner entlarvt die Ausbeuter. Und womöglich gelangt der eine oder andere Ausbeuter so zur Einsicht, welche Folgen seine Praktiken haben.

„Wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei …“: Das dritte Beispiel Jesu hängt ebenfalls mit der römischen Besatzungsmacht und ihren entwürdigenden Praktiken zusammen. So gab es das Gesetz, dass ein Soldat jeden beliebigen Zivilisten zwingen durfte, seinen schweren Tornister genau eine Meile für ihn zu schleppen – nicht mehr! Eine Meile war erlaubt, alles darüber hinaus wurde gesetzlich geahndet! So konnte man die Wut des Volks in Grenzen halten und die Menschen dennoch zu Hand- und Spanndiensten zwingen. Jesus hielt jede bewaffnete Aktion gegen die Römer für zwecklos. Aber wieso die zweite Meile?

Auch hier geht es darum, dass die Unterdrückten die Initiative behalten und ihre Würde wahren können. Man stelle sich vor, was geschieht, wenn sie das Gepäck eine Meile geschleppt haben. Jetzt muss der römische Soldat fordern: „Gib mir den Tornister wieder!“ Was aber, wenn der andere sagt: „Ach nein, ich trag’ ihn gern noch eine Meile!“ Der Soldat gerät in eine echte Zwickmühle. Lässt er es zu, dann macht er sich strafbar. Also muss er ins Betteln verfallen – oder dem Bürger den Tornister gewaltsam entreißen.

Bringen wir die Beispiele Jesu auf einen Nenner: Begegne brutaler Macht mit Witz und Humor! Entlarve das Unrecht des Systems! Beschäme den Unterdrücker, bis er umkehrt! Und vor allem: Lass die Angst vor der bestehenden Ordnung und ihren Spielregeln in dir sterben. Das ist das Schwierigste. Was bedeutet das, wenn eine ferne ­Konzernspitze Arbeitsplätze vernichtet? Wenn die Kleinen die Profitgier der Großen ausbaden müssen? Wenn man sich ausgeliefert fühlt? Lasst euch die Würde nicht nehmen, rät Jesus. Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltlosigkeit – sie beginnen im Kleinen, und sie folgen im Kleinen wie im Großen denselben Gesetzen.

Jesus gibt in der Bergpredigt nicht nur Hinweise, wie seine Jünger mit Unterdrückern umgehen sollen. In unserem Lebensalltag geht es ja oft um anders­geartete Auseinandersetzungen und Kleinkriege. Jesus zeigt uns ganz praktisch, wie Entfeindung und Versöhnung möglich sind, wo Beziehungskonflikte allen Parteien das Leben schwer machen: Wir alle kennen vermutlich den Krieg am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und in der Familie, zum ­Beispiel wenn es um Erbstreitigkeiten geht. Jesus hat sich übrigens geweigert, Erbstreitigkeiten zu schlichten, als jemand von ihm verlangt hat, in so einem Konflikt Partei zu ergreifen. Seine Empfehlungen zielen in eine ganz andere Richtung. Er gibt uns die „goldene Regel“. Sie lautet: „Alles, was ihr euch von anderen wünscht, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“

Andreas Ebert ist Theologe und Autor. Er war bis 2017 Leiter des Münchner Spirituellen Zentrums St. Martin.

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