Schuldzuweisung für die Reformation

von Martin Schuck

Martin Schuck

Über den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) wird berichtet, er habe am Reformationstag seine beste Flasche Rotwein aufgemacht, denn dieser Tag erinnere an die Entmachtung der einen autoritären Kirche. Die Reformation führte nicht einfach zur Kirchenspaltung, sondern zur Pluralisierung des Christentums, die Grundlage für viele Freiheiten der Moderne wurde.

Liest man die Einladung des Speyerer Bischofs Wiesemann zum ökumenischen Gottesdienst zum Auftakt der Gebetswoche für die Einheit der Christen, muss man den Eindruck gewinnen, Hegel hätte seinen Rotwein besser noch liegen lassen. Im Gottesdienst soll es nämlich ein Bekenntnis zur „Sünde der Spaltung als Folge der Reformation“ geben, und genau dafür soll um Vergebung gebeten werden. Hier zeigt sich die Problematik von Schuldbekenntnissen, die sich nicht auf konkrete Taten noch lebender Menschen beziehen. In der Einladung des Bischofs wird eine eindeutige Schuldzuweisung an die Reformatoren ausgesprochen. Die Idee, dass die Spaltung unausweichlich war, weil Rom auf einigen unbiblischen Sonderlehren wie dem Ablass und der Lehre vom Messopfer beharrte, kommt dem Autor der Einladung nicht in den Sinn. Die Aufarbeitung einer „Schuldgeschichte“ müsste aber beide Seiten in den Blick nehmen.

Jenseits von fragwürdigen Schuldbekenntnissen könnte es verheißungsvoll sein, wenn sich katholische und evangelische Theologen bei einem Glas Rotwein zusammensetzten und ernsthaft über die noch immer aktuellen Fragen der Reformation diskutierten. Dann würden vielleicht auch katholische Bischöfe erkennen, dass die heutige katholische Kirche der Reformation mehr zu verdanken hat, als gemeinhin eingestanden wird.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare