Der Papst ist doch ein Befreiungstheologe

von Martin Schuck

Martin Schuck

Im Zusammenhang mit der Entlassung des deutschen Kurienkardinals Gerhard Ludwig Müller als Präfekt der Glaubenskongregation ist eine Diskussion entstanden um das theologische Selbstverständnis von Papst Franziskus und das Grundanliegen seines Pontifikats. Unterstellt man, dass es nicht nur persönliche Gründe sind, die den Papst veranlassten, einen in seiner Zeit als Theologieprofessor weltweit geachteten Spitzentheologen durch einen spanischen Jesuiten zu ersetzen, dann muss sich dieser Rauswurf nach nur fünf Amtsjahren aus einer inhaltlichen Kurskorrektur erklären.

Ein Schlüssel für das Handeln des Papstes liegt in dessen argentinischer Herkunft. Kurz nach seiner Wahl galt die Einschätzung, Franziskus sei ein zwar theologisch konservativer, aber um die sozialen Zustände in Südamerika besorgter Theologe, der nichts mit der politisch links stehenden, in einzelnen Stömungen sogar marxistisch orientierten Theologie der Befreiung zu tun habe. Vielmehr gehöre er jener Generation von Bischöfen an, die von Papst Johannes Paul II. eingesetzt wurden, um die Befreiungstheologen in der kirchlichen Hierarchie zu isolieren und wirkungslos zu machen.

Gut vier Jahre später hat sich die Diskussionslage verändert. Bereits nach seinem ersten Lehrschreiben „Evangelii gaudium“ (Freude des Evangeliums) wurde dem Papst ein enges Verhältnis zur Theologie der Befreiung nachgesagt, denn einige ihrer Grundgedanken wie die „Option für die Armen“ oder der „Vorrang der Praxis vor der Theorie“ tauchten plötzlich in einem lehramtlichen Schreiben auf. Und im Rückblick auf den zehnten Jahrestag der fünften Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischofskonferenz im brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida 2007 wurde darauf aufmerksam gemacht, dass niemand anderes als der heutige Papst Leiter der Redaktionskommission war, die ein Schlussdokument erstellte, das im Stil der Befreiungstheologie von der Notwendigkeit sprach, „gerechte Strukturen“ und „eine gerechte Ordnung der Gesellschaft“ zu schaffen.

Katholische Beobachter wie der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip weisen anhand seiner Äußerungen nach, dass Franziskus stark mit einer in Argentinien populären Variante der Befreiungstheologie sympathisiert, die sich „Theologie des Volkes“ nennt. Deshalb habe es Kruip zufolge der Papst, damals noch als Erzbischof von Buenos Aires, „aus Dankbarkeit und Verehrung“ ermöglicht, dass der Theologieprofessor Lucio Gera, neben Juan Carlos Scannone der wichtigste Vertreter dieser Theologie, 2012 in der Grablege der Bischöfe in der Kathedrale von Buenos Aires bestattet wurde. So dürfte die Sympathie für die Theologie der Befreiung tatsächlich viele Äußerungen und nicht zuletzt auch Personalentscheidungen dieses Papstes erklären. Aber die Hoffnung auf eine Richtungsänderung galt schließlich als Motiv für die Wahl eines Südamerikaners.

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