Paartherapie für Deutschland gesucht

von Florian Riesterer

Florian Riesterer

Protest, das öffentliche Einstehen für die eigene Meinung, ist nichts Schlechtes – solange im Protest selbst der andere nicht herabgewürdigt wird. Eine Gruppe sagt ihre Meinung. Damit wirbt sie für ihre Ansichten. Im besten Fall wird in einer Demokratie die Meinung aber nicht nur im Protest der jeweiligen Gruppe artikuliert, sondern im Austausch der Gruppen, in einem Diskurs. Danach sieht es in Deutschland nicht aus. Es wird übereinander, nicht miteinander geredet.

Zu erkennen ist das an immer ruppiger werdenden Kommentaren im Internet. Es ist dort leicht, in der Anonymität „jemand anderem etwas vor die Füße zu rotzen“, drückt es Oberkirchenrätin Dorothee Wüst aus. Und das Medium selbst verstärkt den Wunsch, den anderen in der Wortwahl noch zu übertreffen. Schließlich sticht in der Masse des Geschriebenen nur der heraus, der den Konsens am stärksten verletzt. Auch bei Demonstrationen sinken die Hemmungen. Argumente werden nicht ausgetauscht.

Das könnte damit zusammenhängen, dass die Gesellschaft nicht mehr an eine Streitkultur gewöhnt ist. Talkshow-Debatten sind ein gutes Beispiel. Hier werden zwar Argumente genannt, eine Diskussion entspinnt sich aber nur selten. Im Bundestag sind inhaltliche Debatten ebenfalls rar. Häufig wird versucht, den politischen Gegner zu diskreditieren. Wie du mir, so ich dir. Parteipolitiker halten Reden, die ihre jeweils eigene Wahlklientel hinter sich bringen.

Auf seiner Meinung zu beharren, bedeutet, das eigene Gesicht nicht zu verlieren. „Kompromisse werden als Niederlage aufgefasst“, so hat es Dorothee Wüst erlebt. Gerade deshalb wäre es so wichtig, dass die Regierung beim Thema Corona nicht weiter am Parlament vorbei regiert. Das Vermeiden von Diskurs verhindert abweichende Meinungen nicht, sondern drängt sie in die Isolation. Und weil jede Gruppe, ganz egal ob Impfgegner, Tierschützer oder Abtreibungsgegner, nur für sich selbst spricht, wird nicht für das Gemeinwohl gestritten. Stattdessen entsteht das, was der Psychologe Ernst-Dieter Lantermann „kleine totalitäre Inseln“ nennt.

Das Fatale: Der Wunsch, zum Wohle aller zu handeln und zu streiten, kommt so irgendwann völlig abhanden. Die einzelne Gruppe, in der alle einer Meinung sind, gibt Bestätigung. Erst recht im Internet. Dort ist aufgrund der schieren Masse immer jemand zu finden, der mir zustimmt.

Denn eines eint die Menschen: Sie sind letztlich konsensbedürftig – ob sie ihre Meinung offen artikulieren oder nicht. Niemand erträgt dauerhaften Streit, das zeigen Beziehungen. Und doch geht es darum Streit zuzulassen – um zu verstehen, warum der andere anders denkt als ich selbst. Sonst entfremde ich mich genauso. Dafür muss mir etwas am anderen liegen. Den Gedanken zuzulassen, dass das Gegenüber in einer Auseinandersetzung letztlich sein Menschsein mit mir verbindet, könnte ein Anfang sein.

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