Mauer im Kopf und Durchzug in Europa

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Eigentlich ist alles gesagt. Etwa ein Drittel der Deutschen war noch nicht oder gerade erst geboren, als die Teilung des Landes in zwei Staaten endete. Sie kennen nichts anderes als das geeinte Deutschland. Die DDR, Mauer und Stacheldraht sind für sie Erzählungen von Eltern und Großeltern.

Ost und West haben für diese Generation keine Bedeutung. In ihren Köpfen gibt es keine Mauer. In den Köpfen der übrigen zwei Drittel der Bevölkerung aber schon. Die Generation 40 plus hat die DDR noch selbst erlebt – als Heimat oder als die Finsternis. Viele ältere Wessis – ein Begriff aus dem Osten – schauen mit einer oft unbewussten Herablassung auf die neuen Bundesländer. Nach 30 Jahren sind die so neu aber nicht mehr. Trotzdem beschleicht den Beobachter das Gefühl, viele Bürger der alten Bundesrepublik wären die angeblich ewig jammernden Ossis am liebsten wieder los.

Diese selbst, soweit sie 40 oder 50 Jahre und älter sind, trauern der alten DDR mehrheitlich zwar keineswegs hinterher. Viele klagen aber, dass ihre Lebensleistungen, ihre Erwerbsbiografien im System der DDR nicht angemessen gewürdigt würden. Sie wollten ja nicht die Einheit herbeiführen, sondern lediglich eine bessere DDR schaffen. Die Euphorie der Wendezeit war mit dem vom Westen forcierten Zerfall der Wirtschaftsordnung dann alsbald verflogen.

Generell fühlen sich viele auch einfach abgehängt und beklagen ein – faktisch marginales, in seiner Wirkung aber deklassierendes – Gefälle bei Löhnen, Gehältern und Renten. Die ebenfalls geringeren Lebenshaltungskosten, Mieten und Immobilienpreise werden hingegen ausgeblendet.

Das vermittelt das Gefühl, viele Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR seien im geeinten Deutschland noch nicht wirklich angekommen. Die Reserviertheit gegenüber Menschen mit fremden Wurzeln und die erschreckenden Wahlerfolge rechter Parteien zwischen Ostsee und Erzgebirge verstärken noch den Eindruck, im geeinten Deutschland lebten zwei verschiedene Nationen. Das wird vermutlich noch eine Weile anhalten.

Eine Hoffnung scheint aber gerade zu zerbröseln. Eigentlich sollte und wollte das geeinte Deutschland ja zur guten Stube im Haus Europa werden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende des Kalten Kriegs und der (vermeintlichen) Aussöhnung der Machtblöcke in Ost und West schien schließlich ein goldenes Zeitalter anzubrechen – von Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Doch im Haus Europa herrscht Durchzug, die Stimmung ist eisig. In einer Reihe osteuropäischer Länder stehen die frisch erworbenen Freiheiten wieder zur Disposition. Der große Nachbar im Osten gibt erneut den Bösewicht. Die Corona-Krise und der Andrang von Flüchtlingen nähren einen fast überwunden geglaubten nationalen Egoismus. Die Mauer im Kopf der Deutschen ist in dieser Gemengelage allenfalls ein Mäuerchen.

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