Jetzt erwacht der Gerechtigkeitssinn

von Florian Riesterer

Florian Riesterer

Notstand in der Kranken- und Altenpflege, unzumutbare Wohn- und Arbeitsverhältnisse von Schlachthofmitarbeitern, Sanierungsstau an deutschen Schulen: Alles Dinge, die schon lange vor Corona bekannt waren. Der Virus hat wie ein Brennglas gewirkt, den Finger in Wunden gelegt. Auch was Gerechtigkeit angeht. Als der Staat im März Grenzkontrollen verordnete, Geschäfte schließen mussten, gab es kaum Protest. Es galt „Sicherheit für alle“, jeder hatte etwas von den beschlossenen Maßnahmen, jeder litt in irgendeiner Weise unter dem Virus.

Jetzt lockert der Staat den Corona-Griff. Aber ein Aufatmen ist kaum zu spüren. Im Gegenteil: Viel zu sehr hat der Lockdown wirtschaftlichen Schaden hinterlassen. Vor allem aber erwacht der Gerechtigkeitssinn. Warum spielt die Bundesliga, wenn der Sohn nicht kicken kann? Warum wird über die Höhe der Staatshilfen für Flugzeugbauer und Autobauer diskutiert, während das kleine Café immer noch geschlossen ist, weil sich der Betrieb unter den Corona-Auflagen nicht rechnet? In mehreren Bundesländern haben Schüler gegen den Schulbesuch geklagt, weil sie sich Gefahren ausgesetzt sehen, denen andere nicht entgegensehen.

Grundrechte sind einklagbar. Jedem gerecht werden in seinem Wunsch nach Unterstützung wird der Staat nicht können. Die Verteilmenge ist endlich. Der Weg freilich zu mehr Gerechtigkeit ist nicht verbaut. Doch die Ellenbogen fahren alle aus. Das kann die Gesellschaft vergiften. Wer aber jetzt unter dem Brennglas Corona keine Ansprüche ­anmeldet, wird es künftig noch schwerer ­haben. Jene, die schon vor Corona litten, sollten deshalb nicht schweigen. Alle anderen müssen sich fragen lassen, ob sie Recht oder mehr Gerechtigkeit haben wollen.

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