Wie die Russen mit der Krise umgehen

von Karsten Packeiser

Karsten Packeiser

Seit über einem Jahr geht das Gespenst eines neuen Kalten Kriegs um in Europa. Die Rolle des Alleinschuldigen am mörderischen Ukraine-Konflikt, an den Sanktionen und Gegensanktionen, sehen die meisten Europäer exklusiv bei Russland, das wegen des Ölpreisverfalls auch noch in eine schwere Rezession gerutscht ist. Wer sich im Sommer 2015 ein Bild davon machen möchte, wie sich das Land verändert, wie die Russen mit Krise und neuer Konfrontation umgehen, der kann eine Reihe überraschender Erfahrungen machen. Manche davon sind scheinbar unspektakulär, kaum ein westlicher Korrespondent würde darüber berichten, zumal sie nicht in das verbreitete Klischee einer durchgeknallten Diktatur passen.

Neu ist beispielsweise, dass die Grenzer auf dem Flughafen lächeln. Noch vor Kurzem fühlte sich jeder, der die Einreise in den größten Staat der Welt begehrte, an der Passkontrolle behandelt wie ein feindlicher Spion. Jetzt lautet die einzige Frage: „Sind das Ihre Kinder? Die sind ja goldig.“ Neu ist, dass Behördengänge in perfekt organisierten Bürgerbüros erledigt werden können statt wie früher in miefigen, überfüllten Katakomben. Neu ist auch, dass Städteplaner nicht nur immer neue Stadtautobahnen errichten, sondern anderenorts Fahrbahnen verengen lassen, um mehr Platz für Spaziergänger, Fahrradfahrer und Straßencafés zu schaffen. Das alles macht Russland leider nicht zu einem funktionierenden, demokratischen Rechtsstaat, aber es ist eine Erklärung dafür, dass die Mehrzahl der Russen die Entwicklung ihres Landes noch immer als passabel empfindet.

Für ein Land, dessen Bruttosozialprodukt gerade in griechischem Ausmaß abstürzt, nehmen die Menschen die Krise bislang erstaunlich gelassen. Von kollektiver Verzweiflung wie in den chaotischen Jelzin-Jahren ist kaum etwas zu spüren. Auch das von den Russen verhängte Embargo gegen Lebensmittel-Westimporte hat nur geringe Auswirkungen: Milch ist teuer geworden, einige Käsesorten sind aus dem Sortiment verschwunden, aber die Läden sind voll, die Auswahl ist enorm. Viele Westwaren werden jetzt einfach nach Weißrussland geliefert, umverpackt und dann weiterverkauft.

Wirklich drastische Folgen hat der Wertverfall des Rubels bislang auf die Urlaubsplanung der Mittelklasse: Sotschi statt Costa del Sol heißt das Gebot der Stunde. Aber das ist eine erzwungene Entscheidung. Keineswegs bedeutet sie, dass die Russen dem von ihrer Führung trotzig verkündeten „Schwenk nach Osten“ in patriotischer Wallung folgen. Je mehr antiwestliche Stimmung die Medien verbreiten, desto größer wird die Zahl derer, die den Fernseher gar nicht mehr einschalten. Die Gesellschaft orientiert sich wie eh und je an Europa, Großstädter vergleichen ihr Leben mit dem in Paris und London. Auch das ist in Zeiten, in denen manch Kalter Krieger in West und Ost von neuen Mauern geradezu träumt, keine schlechte Erfahrung.

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