Weizsäckers Moral im Wandel der Zeit

von Klaus Koch

Klaus Koch

Richard von Weizsäcker war einer der wichtigsten Bundespräsidenten Deutschlands. Der am Samstag vergangener Woche 94-jährig gestorbene CDU-Politiker galt als moralische Autorität, als tiefgründiger Denker, als wortstarker und weltoffener Repräsentant der deutschen Demokratie. Seine Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985 war eine Sternstunde. Sie überwand die vielen nationalen Anklänge bei der Diskussion um das Kriegsende. Endlich war klar: Dieser Tag war eine Befreiung für Deutschland.

Spätestens nach dieser Rede verstummte alle öffentliche Kritik an von Weizsäcker, dessen Familie in das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus verstrickt war. Das hat von Weizsäcker allerdings nie eingestanden. Helmut Kohl nannte ihn deshalb einen der größten Anpasser der deutschen Republik. Der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf sprach davon, dass eine „protestantische Mafia“ der öffentlichen Meinung um „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff dafür gesorgt habe, dass die Weizsäckers moralisch unbeschadet alle Vorwürfe überstanden. „Die Bundesrepublik wäre wirtschaftlich nicht so erfolgreich gewesen, wenn es nicht am Anfang eine gewisse moralische Großzügigkeit gegeben hätte“, sagte Dahrendorf.

Auch aus diesem Blickwinkel gibt die Rede zum 8. Mai tiefe Einblicke in das kollektive Seelenleben Deutschlands. Einer wie von Weizsäcker konnte in den dünn besiedelten Olymp der weisen alten Staatsmänner einziehen. Nicht weil er die NS-Vergangenheit seiner Familie radikal aufklärte, sondern weil sein Leben und Handeln nach 1945 glaubhaft und überzeugend war. Die Deutschen honorierten nach der NS-Diktatur tätige Reue mehr als rhetorische. Nicht zuletzt aus Eigeninteresse.

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