Und er tat seinen Mund auf

von Hartmut Metzger

Hartmut Metzger

„Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg …“ Mehr als 2000 Jahre sind eine lange Zeit. Da schleift sich vieles ab. Aber die Botschaft hatte eine gewaltige Sprengkraft. Da erklärte der Sohn eines Zimmermanns den Menschen das Reich Gottes. Als er gefangen und gekreuzigt wurde, sagten sie: Er ist nicht tot, er ist auferstanden, das Grab ist leer. Er lebt, und diese Geschichte geht weiter.

Jesus predigt das Reich Gottes, und es kommt die Kirche, mögen Spötter heute sagen. Die Kirche hat es immerhin geschafft, die Botschaft Jesu durch alle Irrungen der Zeiten hindurch bis heute in Erinnerung zu halten. Aber das reicht nicht mehr aus, wenn binnen Jahresfrist 270000 Protestanten und 272000 Katholiken aus der Kirche austreten, was von der Öffentlichkeit nur noch mit einem müden Schulterzucken notiert wird.

Als Ursachen dieser Austrittszahlen – nur 1992 nach Einführung des Solidaritätszuschlags waren sie höher – werden nun wieder Traditionsabbruch und sinkende gesellschaftliche Relevanz genannt. Beides ist nicht zu bestreiten. Ob sie aber die eigentlichen Ursachen sind – oder nicht doch schon die Folgen?

Die Botschaft Jesu war anstößig und für die Machthaber unbotmäßig. Die Kirche heute gehört zum Establishment und sonnt sich in der Bedeutung, die ihr der Staat gewährt. Sie ist sozial-diakonisch engagiert und will dazugehören. Glaubensgemeinschaft und Sozialkonzern? Dabei beginnen die Probleme eigentlich mit der Friedlichen Revolution des Jahres 1989. Die Republik wird nicht von Protestanten überrannt. Was kommt, ist der Solidaritätszuschlag und die Pflegeversicherung, für die 1994 pflichtbewusst der evangelische Buß- und Bettag geopfert wird. Das Vorhaben „Wachsen gegen den Trend“ misslingt gründlich, und die Leuchttürme der „Kirche der Freiheit“ erlöschen schnell. Nur die Unternehmensberater bleiben. Dabei wollen die Menschen doch nur wissen, was es ihnen bringt, wenn sie der Kirche angehören.

Weshalb sucht Kirche die Antwort also nicht bei sich selbst, bei ihrem Markenkern, dem „Unique Selling Point“, in der Theologie ihrer Gemeinden und Fakultäten. Gefragt ist nicht die Coca-Cola-Reklame für eine Institution, sondern das hilfreiche Angebot ihrer Botschaft. Das Evangelium muss für die Leidenden, die Hungernden, die Barmherzigen und die Friedfertigen von heute buchstabiert werden. In der Regel sind das nicht jene Minderheiten, die am lautesten rufen.

Auf dem bunten Markt der weltanschaulichen Möglichkeiten suchen viele nach Orientierung und Sinn. Kirche muss heute sagen, was sie meint, wenn sie das Wort Gott gebraucht. Ein verlässlicher Wegweiser in der säkularisierten Gesellschaft steht noch aus. Die Theologen sollten sich auf die Suche machen und auf die Botschaft Jesu vertrauen – am besten dort, wo alles anfing: Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach …

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