Schöner sterben in der schönen neuen Welt

von Hartmut Metzger

Hartmut Metzger

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch für „nichtig“ erklärt; für nicht korrigierbar, weil sich die Ansichten der Richter und die Absichten des Gesetzgebers widersprechen. Das ist sein gutes Recht. Es hat Politik und Gesellschaft damit die Klärung jener Frage zugewiesen, die für das Verständnis menschlicher Existenz von grundlegender Bedeutung ist: die Frage nach Leben und Tod. Sind die Karlsruher Richter mit diesem Urteil aber ihrer eigenen Verantwortung gegenüber dieser Gesellschaft gerecht geworden? Die Begründungen lassen Zweifel aufkommen.

Es gibt dort Formulierungen, die paradoxerweise jene Selbstmörder in den Blick rücken, die sich in ihrer Verzweiflung vor fahrende Züge werfen: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremd definierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz.“ Und weil künftig eine Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu setzen, „keiner weiteren Begründung und Rechtfertigung“ bedarf, ist die Selbsttötung „als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“.

Hier wird die Autonomie des Individuums in radikaler Weise auf den Hochaltar einer sich selbst segmentierenden Gesellschaft gestellt. Und es wird noch schlimmer, wenn die Richter betonen, dass eine „Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen“ auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinauslaufe, die „dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist“. Kennt dieses Grundgesetz etwa nur die Freiheit des Einzelnen und nicht auch die Verantwortung für Menschen in einer solch ausweglosen Situation? Hier sind die Verfassungsrichter offenbar im Weihrauchnebel dem Zeitgeist erlegen. Das ist ja eine schöne neue Welt! Immerhin muss künftig niemand mehr vor Züge springen, sondern kann sich gegen einen kleinen Obolus beim Sterbehilfeverein an der Ecke selbstbestimmt einschläfern lassen.

Immerhin sind sich die Richter der Problematik ihrer Argumentation bewusst. Sie machen deutlich, dass der Gesetzgeber die Sterbehilfe regulieren darf, was er unter dem Druck dieses Urteils auch unverzüglich erledigen muss: Zum Schutz der Selbstbestimmung soll er die organisierte Sterbehilfe einschränken! Der Gesetzgeber darf das Recht auf Selbsttötung dabei nicht von unheilbaren Krankheiten abhängig machen. Umbringen dürfen sich ja auch körperlich Gesunde. Mit ihrem postulierten Recht auf Selbsttötung schütten die Richter das Kind mit dem Bade aus. Wer soll ihren „Akt autonomer Selbstbestimmung“ nach diesem Urteil und den darin verworfenen Werten eigentlich noch vor sozialem Druck und Missbrauch schützen? Vorhang auf und alle Fragen offen.

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