Ohne Anstand gibt es keine Freiheit

von Hartmut Metzger

Hartmut Metzger

„Beleget den Fuß | Mit Banden und Ketten | Dass von Verdruss | Er kann sich nicht retten | So wirken die Sinnen | Die dennoch durchdringen | Es bleibet dabei: | Die Gedanken sind frei.“ So lautet die alte Fassung des um 1780 auf Flugblättern veröffentlichten Freiheitslieds, das bis heute in unzähligen Versionen bekannt wurde. Damals war das viel ältere Kernmotiv des Lieds klar. Es ging in Zeiten der politischen Unterdrückung um die Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, die niemals ohne Bindung an Glauben, Vernunft und Verantwortung zu erreichen sind.

Heute, in einer Zeit der Gedankenlosigkeit über das politisch Erreichte, in der niemand mehr wegen seiner Gedanken in „Banden und Ketten“ kommt, klingt das tradierte Motiv „Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei“, fast schon obszön. Immer wieder wabert es ohne Vernunft und Verantwortung dumpf dahin und erobert im schlimmsten Fall ­massenhaft die Straßen und Plätze. Noch schlimmer: In den Räumen des Deutschen Bundestags schwingt es mit – dort, wo Otto Wels im März 1933 die letzte freie Rede im Reichstag hielt: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Dort, wo sich Anstand, Ehre und Barmherzigkeit verabschieden, gibt es keine Freiheit mehr. Dort herrschen Unfreiheit, Zwang und das Recht des Stärkeren. Es gibt keine freien Gedanken dort, wo sich der Schwache den noch Schwächeren sucht. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus in ­seinem Brief an die Galater. Freiheit kommt nicht von ungefähr. Sie ist nie unbedingt, und sie macht uns nicht frei von all dem, was uns nicht gefällt. Sie befreit zu ver­antwortlichem Handeln. Meinungs- und ­Demonstrationsfreiheit sind hart erkämpft. Sie sind keine Selbstverständlichkeit.

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