Mit der ganzen Kraft des kirchenamtlichen Apparats

Akademiedirektor Christoph Picker zieht gemischte Bilanz der Reformationsdekade – Protestantismus hat Profil gestärkt – Zu selten kritisch

Überraschendes gab es zu selten: Künstler Ottmar Hörl 2010 mit seinen Lutherskulpturen auf dem Wittenberger Marktplatz. Foto: epd

Gemeinsamer Weg: Für Kirchenpräsident Christian Schad und den Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann ist die Ökumene eine bleibende Aufgabe. Foto: Landry

Akademiedirektor Christoph Picker.

Der Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz, Pfarrer Christoph Picker, zieht eine gemischte Bilanz der am 31. Oktober endenden Reformationsdekade. Die evangelische Kirche habe mit den neun Themenjahren gekonnt auf der medialen Klaviatur gespielt, sagte Picker im Gespräch mit dem KIRCHENBOTEN. Allerdings sei die Kirche in der Ökumene und in der politischen Diskussion nicht kritisch genug gewesen. „Immerhin haben wir mit Luther einen Troublemaker gefeiert, der mit bestehenden Verhältnissen gebrochen hat.“

Durch das Jubiläum sei es dem Protestantismus gelungen, mit der gesamten Breite der Gesellschaft ins Gespräch zu kommen, sagte Picker. Das habe das Profil als Bildungsreligion gestärkt, die zu den Themen Freiheit, Toleranz, Menschenwürde und Bildung etwas zu sagen hat. Er habe immer wieder festgestellt, dass in Politik, Kultur und Gesellschaft großes Interesse an der protestantischen Sicht der Dinge bestehe.

Das Jubiläum sei keine Revolution gewesen, habe aber das Bewusstsein dafür gestärkt, dass der Protestantismus eine starke politische, kulturelle und geistliche Kraft sei, sagte Picker. Allerdings habe die Kirche gesellschaftliche Missstände nicht deutlich genug kritisiert. Als Beispiele nannte Picker die guten Geschäfte Deutschlands mit dem Waffenhandel, ungleiche Bildungschancen und die Tatsache, dass Kinder immer noch ein Armutsrisiko seien.

Positiv vorangebracht hat das Jubiläum nach Ansicht des Akademiedirektors die Ökumene. Es sei gut, dass der Protestantismus seine Stärken nicht auf Kosten der katholischen Seite gezeigt habe. Dadurch sei es zu einem Vertrauensgewinn gekommen und das öffentliche Erscheinungsbild der beiden Kirchen sei sehr harmonisch. Allerdings könne es langfristig keine tragfähige Freundschaft geben, wenn Differenzen ausgeblendet werden. Daher sei es nicht aufrichtig, Unterschiede im Amtsverständnis, bei der Rolle der Frauen oder bei der Eucharistie auszublenden.

Die evangelische Seite sei gegenüber den Katholiken zu duldsam, sagte Picker. Denn trotz der gezeigten Harmonie herrsche in der Ökumene faktisch Stillstand. Die deutschen Bischöfe gehörten nicht zu denen, die daran durch progressive Vorschläge etwas ändern wollten. Sie agierten nach wie vor vorsichtig und konservativ.

Kein Verständnis hat Picker auch für die Schuldbekenntnisse wegen der Kirchenspaltung vor 500 Jahren. Nach seiner Auffassung könne nur persönliche Schuld bekannt werden, nicht aber Schuld für Dinge, die Jahrhunderte zurückliegen. Zur historischen Wahrheit gehöre auch, dass Luther nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten sei, um eine neue Kirche zu gründen. „Zur Spaltung kam es, weil der Papst Luther mit der Bannbulle rausgeworfen hat.“

Innerprotestantisch habe das Jubiläum keine Fortschritte gebracht, sagte Picker. Es habe Momente der Selbstvergewisserung gegeben. Dennoch sei die evangelische Kirche eine Organisation unter Stress. Viele Haupt- und Ehrenamtliche glaubten, wenn sie sich nur ordentlich anstrengten, könne eine weitere Erosion der Kirche verhindert werden. „Das führt langfristig dazu, dass wir eine ausgebrannte Kirche werden.“ Da stelle sich die Frage, ob die Protestanten die Rechtfertigungslehre und somit Luthers „allein aus Gnade“ selbst richtig verstanden hätten.

Die Reformationsdekade sei mit der ganzen Kraft des kirchenamtlichen Apparats professionell gemanagt worden, sagte Picker. Eine Basisbewegung habe es aber nicht gegeben. Die protestantischen Vereine oder auch die kirchenpolitischen Gruppen fielen als Impulsgeber weitgehend aus. Durch die kirchenamtliche Organisation sei vieles bei den Feiern voraussehbar gewesen. Überraschendes wie die Kunstaktion mit den Lutherdeutungen, den Segensroboter oder die fulminante Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ habe es zu selten gegeben. Klaus Koch  

Mit der Trennung nicht abfinden

Kirchenpräsident Christian Schad zieht Bilanz des 500. Reformationsjubiläums – Impuls für die Ökumene

Das 500. Reformationsjubiläum hat nach Einschätzung von Kirchenpräsident Christian Schad zahlreiche Impulse in Kirche und Gesellschaft gegeben. Die neun Themenjahre der Reformationsdekade seit 2008 und das Jubiläumsjahr hätten zu einer „breiten, vielgestaltigen und einfallsreichen Beschäftigung in den Kirchen als auch in der Zivilgesellschaft“ geführt, sagte Schad in einem Gespräch mit dem KIRCHENBOTEN. Das Jubiläum habe in vier Bereichen erfolgreich ausgestrahlt: als Glaubens-, Beteiligungs-, Ökumene- und Kulturjubiläum.

Der evangelischen Kirche sei es gelungen, über ihre Anhängerschaft hinaus Interesse für die Inhalte der Reformation zu wecken, sagte der Kirchenpräsident in seiner Bilanz des Jubiläumsjahrs. Vor allem sei es wichtig, dass das Reformationsjubiläum erstmals ökumenisch mit anderen christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften gefeiert worden sei. Das Jahr 2017 habe weitere große Schritte auf dem Weg zur Einheit der Kirche gebracht. Er hoffe, dass das „konfessionsverbindende Jubiläum“ dazu führen werde, im Gespräch mit der katholischen Kirche beim gemeinsamen Abendmahl für evangelisch-katholische Ehepaare voranzukommen.

Die positiven ökumenischen Erfahrungen im Jubiläumsjahr mit Glaubensgeschwistern anderer christlicher Konfession spornten an, „intensiv wieder zu suchen nach der sichtbaren Einheit der Kirche als vielfältige Gemeinschaft in einem Glauben und am Tisch des Herrn“, sagte Schad. Dabei müssten bleibende Unterschiede kritisch angesprochen werden. Doch die theologischen Differenzen zwischen den christlichen Kirchen seien nicht kirchentrennend. Konfessionelle Unterschiede dürften nicht weggeredet und die Profile nicht abgeschliffen werden. „Aber damit, dass sie kirchentrennend sind und auf Dauer kirchentrennend bleiben, damit will ich mich nicht abfinden.“

Ein persönlicher Höhepunkt des Jahres sei für ihn der Versöhnungsgottesdienst am 12. März mit Bischof Karl-Heinz Wiesemann und Vertretern anderer christlicher Kirchen in der Abteikirche zu Otterberg gewesen. Der ökumenische Geist der von evangelischen und katholischen Christen genutzten Simultankirche habe deutlich gemacht, dass Mauern fallen könnten und dass Glaubensgeschwister Wege zueinander und miteinander gehen könnten.

Schad begrüßte es, dass die evangelische Kirche im 500. Jubiläumsjahr die Größe besessen habe, die reformatorischen Errungenschaften gemeinsam mit anderen ohne Ausgrenzungen zu feiern. Protestantisches Profil habe die Kirche gerade dadurch gewonnen, das Jubiläum als gemeinsames Christusfest mit katholischen, orthodoxen und freikirchlichen Christen zu begehen. Wünschenswert sei ein eigenes Profil, das dadurch gekennzeichnet sei, dass man „über die eigene Schönheit und Stärke“ rede – ohne „Selbstruhm auf Kosten anderer“. Die Erinnerung an die Reformation habe einen starken Impuls für die Ökumene gegeben, die in den kommenden Jahren intensiviert werden müsse.

Mit Selbstkritik habe die evangelische Kirche während der Reformationsdekade und im Jubiläumsjahr nicht gegeizt, betonte der Kirchenpräsident. Auch die Landeskirche habe sich mit dem problematischen Verhältnis Martin Luthers zu den Juden auseinandergesetzt. Vor der Synode habe er appelliert, dessen „fatale Fehleinschätzungen“ einzugestehen und die „Irrwege des Reformators“ einer Revision zu unterziehen.

Das Jubiläum sei viel mehr als eine innerevangelische Angelegenheit gewesen und habe mit seinen vielfältigen Veranstaltungen und Angeboten in der Pfalz und in ganz Deutschland viele – auch glaubensferne – Menschen erreicht. Sie hätten sie ermutigt, neu oder erstmals nach Gott zu fragen. Begeistert sei die 2016 erschienene neue, revidierte Lutherbibel aufgenommen worden. Deren lebensorientierende Kraft könne in den kommenden Jahren fruchtbar werden.

Wichtig sei es, dass die evangelische Kirche „hörende, aufnehmende Kirche ist und bleibt“, sagte der Kirchenpräsident. Die aus den biblischen Texten lebende Kirche nehme besonders die Benachteiligten der Gesellschaft in den Blick, mische sich ein und ziehe sich nicht ins theologische Kämmerlein zurück. Besonders erhebe die kirchliche Gemeinschaft die Stimme für Arme, Flüchtlinge, Frauen, Kinder und Menschen mit wenig Chancen. Spiritualität und Solidarität – Hilfe aus dem Geist der Nächstenliebe – bildeten in der Kirche eine innere Einheit.

Die Grundaufgabe der Kirche sei es auch in Zukunft, „die Gottesgeschichte öffentlich wachzuhalten“ und dafür zu sorgen, dass sie sich in einer Art Zukunftslaboratorium entfalten könne. Kirche müsse dabei auf andere Menschen zugehen und dabei den christlichen Glauben ins Gespräch bringen. Für Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen, Denk- und Glaubensweisen und auch Suchenden und Zweifelnden müsse die Kirche „glaubensfreundliche Räume“ anbieten. Auch die Landeskirche habe daran mitgewirkt, dass 500 Jahre Reformation mit weitem Blick und unter Beteiligung verschiedenster Partner der Zivilgesellschaft gefeiert worden seien.

Stolz sei er darauf, dass das Projekt des „Europäischen Stationenwegs“ in der evangelischen Kirche der pfälzischen Initiative zu verdanken sei. In 68 Städten in 19 europäischen Ländern hätten Menschen ihre individuellen Geschichten der Reformation erzählt und gefragt, wo heute Reformbedarf in Kirche und Gesellschaft sei.

Das erste, nicht national verengte Reformationsjubiläum der Geschichte habe auch ein starkes Zeichen für das Miteinander in Europa gesetzt. Angesichts der in Europa auseinanderstrebenden Kräfte habe es verdeutlicht, dass Vielfalt Stärke sei, wenn sie im Geist der Gemeinschaft gelebt werde. Das Christsein müsse noch viel stärker als bisher in europäischen Dimensionen gelebt werden, und Christen müssten sich als Teil der weltweiten Christenheit verstehen. Ihren Anspruch, „öffentliche Kirche“ zu sein, müsse die Kirche auch zukünftig betonen, sagte Schad. Die Reformation sei ein Ereignis von Weltrang gewesen und habe das gesamte öffentliche und private Leben verändert und bis in die Gegenwart hinein geprägt.

Im demokratischen Rechtsstaat leiste die evangelische Kirche einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung des Gemeinwesens. Als Beispiel nannte Schad die Bildungsinstitutionen wie evangelische Kindertagesstätten, evangelische Schulen, den schulischen Religionsunterricht sowie sozialdiakonische Einrichtungen.

Das eher geringe Interesse vieler Menschen in säkular geprägten Regionen Ost- und Mitteldeutschlands an den Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum etwa in Wittenberg oder den regionalen „Kirchentagen auf dem Weg“ müsse Ansporn sein, sie für den Glauben wiederzugewinnen. Dazu müsse die Kirche „Mut zur Spiritualität im öffentlichen Raum“ zeigen. Kirchenfernen Menschen müsse das Orientierungspotenzial des christlichen Glaubens vor Augen geführt werden.

Letztlich bereite das ökumenisch ausgerichtete Reformationsjubiläum auch den Weg für das im kommenden Jahr anstehende 200. Jubiläum der pfälzischen Kirchenunion. Als 1818 Lutheraner und Reformierte in Kaiserslautern erstmals das Abendmahl miteinander feierten, hätten sie der innerkirchlichen Ökumene den entscheidenden Schub gegeben. Das Unionsjubiläum erinnere daran, „dass die Reformation erst dann eingelöst sein wird, wenn die Kirche als eine zusammenfindet“. Alexander Lang

 

 

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