Marx und Lenin sind noch nicht vergessen

von Martin Schuck

Martin Schuck

Wäre nicht gerade Reformationsjubiläum, stünde in diesen Tagen ein anderes Gedenken im Vordergrund, nämlich die Erinnerung an die russische „Oktoberrevolution“, deren Ausbruch Anfang November 1917 zunächst kaum bemerkt wurde und trotzdem die Welt veränderte. Wurde der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg bis 1990 in der kommunistischen Welt alljährlich pompös gefeiert, so sind diese Ereignisse heute nur noch ein Thema für Historiker.

Die politische Linke beginnt aufgrund des Erstarkens von populistischen und rechts­extremen Kräften zu ahnen, dass sie immer noch gesellschaftlich relevant sein kann. Dabei ist zu beobachten, dass die Schriften von Karl Marx, dessen 200. Geburtstag im kommenden Jahr gefeiert wird, durchaus eine Renaissance erleben. Aber der von Lenin angeführte Staatsstreich in Russland, der den Marxismus zur politischen Herrschaft brachte, wird von den Linken scheinbar ignoriert.

Es ist wohl die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die hier zum Tragen kommt. Steht die marxistische Lehre für die Befreiung der ausgebeuteten Bevölkerung, so hat die von Lenin angeführte Revolution nur deren Versklavung gebracht. Heute reden Historiker von Lenins Willen zum Bürgerkrieg, der es möglich machte, dass eine relativ kleine Gruppe von Revolutionären nicht nur eine Regierung absetzen, sondern innerhalb weniger Monate einen brachialen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbruch vollziehen konnte. Die Lektion, dass eine gerechte Gesellschaft nicht durch Revolution errichtet werden kann, ist zu wenig. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass radikale Politik immer Opfer in Kauf nimmt und Menschen zu Geiseln derer macht, die einen besseren Menschen schaffen wollen.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare