Kirchentagsmotto auch für Raufbolde

von Stefan Mendling

Stefan Mendling

„Du siehst mich“ ist das Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentags, der im Jubiläumsjahr der Reformation 2017 in Berlin und Wittenberg stattfindet. Das hat das Kirchentagspräsidium beschlossen. „Du siehst mich“ sei auch ausgewählt worden, weil immer mehr Menschen in sozialen Netzwerken Bilder von sich veröffentlichen, damit sie gesehen werden und vermeintlich Ansehen und Freunde gewinnen.

Das Bibelwort stammt aus der Geschichte von Abraham, Sarah und Isaak, der trauten Familie aus dem Alten Testament. „Du siehst mich“ sagen weder Abraham noch Isaak, sondern Hagar, die Magd Sarahs. Mit ihr hat Abraham ein Kind gezeugt, weil er der Verheißung Gottes nicht mehr vertraute. Und als der Engel zu Hagar kommt und ihr die Geburt von Ismael, dem Halbbruder von Isaak, ankündigt, sagt er gleich dazu: Dein Sohn wird ein Raufbold werden wie ein wilder Esel, der seine Hand gegen Jedermann erheben wird – und Jedermann gegen ihn. Heute würde man sagen: Der Engel kündigt verhaltensauffälligen Nachwuchs an. Da antwortet Hagar: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Sie selbst sieht nicht so genau hin, überhört scheinbar die schlechte Nachricht und sieht das Positive in ihrem Kind.

Vielleicht dachte das Kirchentagspräsidium bei diesem Motto ja an die schwer erziehbaren Jugendlichen, die in sozialen Netzwerken unentwegt Bilder von sich veröffentlichen. Oder ist im Jahr der Reformation am Ende sogar Martin Luther der schwer erziehbare Sprössling, dessen Bild mittlerweile auch ohne Facebook überall zu sehen ist? „Du siehst mich“ heißt für Hagar jedenfalls: Augen zu und durch – und Gott das Sehen überlassen. Ob die Veranstalter des nächsten Kirchentag das auch so sehen, weiß man nicht.

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