Kirche ist nicht länger Herrin ihres Schicksals

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Geschafft! Die Feiern zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation sind durchgestanden. Luther und Co. wurden in der Öffentlichkeit als Marke ­gesetzt und wahrgenommen. Am 500. Jahrestag gab es schließlich ­etwas zu erleben, was sonst selbst an Heiligabend nur selten vorkommt: vollkommen überfüllte Kirchen. ­Eigentlich könnte man sich jetzt ­zufrieden zurücklehnen. Doch
dieser Eindruck täuscht.

Denn die Kirche ist längst nicht mehr „Herrin ihres Schicksals“, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hatte den Wissenschaftler aus Münster neben anderen Experten zu ihrer Tagung nach Bonn eingeladen, um ihr dort, nun ja, ein wenig die Leviten zu lesen. „Zukunft auf gutem Grund“, lautete das Leitwort der Tagung, doch die Experten bescheinigten der EKD vor allem, dass der Grund ziemlich wacklig ist. Mit dem Grund meinten sie allerdings Zahlen und Fakten, nicht das Evangelium. Die Kirche verliert Mitglieder – nicht so sehr durch Austritte, sondern vor allem aufgrund der Überalterung der Gesellschaft. Seit Jahren werden mehr Menschen bestattet als getauft. Traditionsabbruch bei der Weitergabe des Glaubens, Wertewandel in der Gesellschaft, Bedeutungsverlust der Kirche – die Schlagworte klingen leider recht vertraut.

Das Reformationsjubiläum markiert insofern eine Zäsur. Kaum sind die Büfetts abgeräumt und die letzten Kerzen ausgepustet, steht die nächste Reformation an. Aber wie sie aussehen soll, weiß niemand. Kirche in einem Volk, das mehrheitlich keiner Kirche angehört, kann sich schwerlich Volkskirche nennen. Für das Volk da zu sein, wenn das Volk davon nichts wissen will – dieser Anspruch wird nicht funktionieren. So weit ist es zwar noch nicht, aber der Weg zur Minderheitenkirche scheint vorgezeichnet. Diese Kirche wird zudem nicht mehr so reich sein wie heute.

Weiterwurschteln ist also nicht länger angesagt. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, vor gut zehn Jahren sollten zwölf kirchliche „Leuchtfeuer“ neues Licht in die Düsternis werfen. Doch das EKD-Konzept einer „Kirche der Freiheit“ verschwand wieder in der Versenkung. Bisher war das Beharrungsvermögen der Institution Kirche stets größer als der Druck zur Veränderung. Die nächsten Jahre dürften das Gesicht der Kirche aber tief­greifend verändern. Das Werben um neue Mitglieder zum Beispiel könnte als illusorisch aufgegeben werden. So lautet Pollacks Expertenrat, darauf zu verzichten, auch wenn es theologisch geboten sei: Kümmert euch um die Menschen, die schon in der Kirche sind – das sei effektiver. Ganz fahren gelassen hat die EKD die Hoffnung auf Zuwachs dennoch nicht. Sie erwägt eine gestufte Mitgliedschaft: dabeisein auf Probe. Aber hat sie auch die Kraft, den Wandel zu gestalten, statt ihn nur zu ertragen? Bislang waren die Schmerzen noch nicht stark genug.

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