Eine neue Sichtweise durch religiöse Kunst

von Martin Schuck

Martin Schuck

Bildliche Darstellungen von biblischen Geschichten gibt es seit den Anfängen der Christenheit. Das ist verständlich, denn die menschliche Vorstellungskraft produziert ganz automatisch Bilder von Geschichten, die man hört oder liest. Deshalb gab es seit den ersten christlichen Jahrhunderten Künstler, die Bilder der biblischen Akteure schufen. Wer kennt nicht die Darstellungen von Mose, der mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabsteigt, oder von Jesus, der den sinkenden Pet­rus vor dem Ertrinken rettet? Genauso alt wie die Bilder selbst ist aber auch der Streit um die Bedeutung dieser Bilder. Immerhin wird in den Zehn Geboten ein klares Verbot ausgesprochen, sich ein Bild von Gott zu machen. Nimmt man die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ernst, dann wurde dieses Bilderverbot niemals eingehalten, denn die Kunstgeschichte hat zu jeder Zeit eine Vielzahl von Christusdarstellungen hervorgebracht. Obwohl in der christlichen Theologie von Anfang an Konsens bestand, dass den Bildern keine selbstständige Verehrung zukommen kann, gab es immer wieder radikale Kräfte, die alle Bilder aus den Kirchen entfernen wollten.

Unser heutiges Verständnis von christlicher Kunst ist stark durch die Theologie der Reformation geprägt. Martin Luther übersetzte nicht nur die Bibel ins Deutsche, sondern forderte auch, dass jeder Christ die Bibel selber lesen solle. Der bis dahin geltende Grundsatz, dass die Künstler mit ihren Bildern biblische Geschichten für die einfache Bevölkerung nacherzählen, verlor damit seine Grundlage. Ein neuer Künstlertypus entstand, der – ähnlich wie die Dichter der Kirchenlieder – mit seinen Bildern nicht einfach nur biblische Szenen darstellen wollte, sondern den Anspruch hatte, einen eigenständigen Zugang zu den Inhalten der lutherischen Lehre zu zeigen. Vor allem in der Werkstatt des Lucas Cranach wurden die Künstler zu Theologen, die Symbole so zu ordnen wussten, dass das reformatorische Geschehen als Teil der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen erkennbar war.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat den 500. Geburtstag des jüngeren Lucas Cranach zum Anlass genommen für ihr diesjähriges Themenjahr „Reformation – Bild und Bibel“. Anders als zur Zeit Cranachs leben wir aber heute in einer Welt, die regelrecht von Bildern überschwemmt wird. Weil der Betrachter das Gefühl hat, alles schon einmal gesehen zu haben, ist es für Künstler eine besondere Herausforderung, mit ihrer Kunst einen wirklich neuen Blick auf die Wirklichkeit zu ermöglichen. Künstler, die sich mit religiösen Themen auseinandersetzen, müssen sich daran messen lassen, ob sie einen Weg finden, längst Bekanntes neu sichtbar und erfahrbar zu machen. Letztlich geht es darum, mit den Mitteln der Ästhetik religiöses Bewusstsein neu zu wecken und auf seinen Gegenstand, den in der Bibel bezeugten Gott, zu lenken.

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