Eine Enzyklika und das Ende des Aufbruchs

von Martin Schuck

Martin Schuck

Es ist ein seltener Vorgang im Katholizismus, dass eine nationale Bischofskonferenz eine eigene Stellungnahme zu einem päpstlichen Schreiben abgeben muss, um die protestierenden Gläubigen zu beruhigen. Aber vor 50 Jahren war es so weit: Mitten ins unruhige Jahr 1968 platzte eine päpstliche Enzyklika mit dem Namen „Humanae vitae“. In diesem Schreiben verbot Papst Paul VI. die Methode der künstlichen Empfängnisverhütung, allen voran die Antibabypille, für gläubige Katholiken. Man kann aus heutiger Sicht nur vage erahnen, welche Proteststürme das Schreiben auslöste, denn schon einen Monat später trat die Deutsche Bischofskonferenz außerplanmäßig in Königstein im Taunus zusammen, um mit einem „Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorgerlichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika ,Humanae vitae‘“ Schadensbegrenzung zu betreiben.

Mit der Enzyklika war das Ende einer mehrjährigen Zeit des Aufbruchs in der katholischen Kirche eingeleitet. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965), vom Reformpapst Johannes XXIII. einberufen, sollte die Fenster zur Welt weit öffnen und ordentlich frische Luft in die Kirche lassen. Und die Kirche veränderte sich tatsächlich, begann sich als Teil der modernen Welt zu begreifen und nicht mehr als deren Gegenspieler. Man suchte ökumenische Kontakte mit anderen Konfessionen, feierte Gottesdienste in der Landessprache und betonte die Kollegialität des Papstes mit den Bischöfen.

In dieser Phase des Aufbruchs wirkte das Verbot der Empfängnisverhütung wie ein Schock. Ausgerechnet in der Sexualethik, deren Liberalisierung zu den wichtigsten Zeichen der Zeit um 1968 gehörte, hatten sich in der katholischen Kirche konservative Kräfte um den polnischen Kardinal und späteren Papst Karol Woityla durchgesetzt. Viele kirchentreue Katholiken wollten diesem Kurs nicht folgen und protestierten gegen die Enzyklika.

Die deutschen Bischöfe konnten und wollten dem Lehrschreiben nicht widersprechen. Allerdings nahmen sie bei „vielen Priestern und Laien, die ebenso in Liebe zur Kirche stehen wollen“, eine „große Ratlosigkeit“ wahr. Sie appellierten deshalb in ihrer „Königsteiner Erklärung“ vom 30. August 1968 an das Gewissen der Gläubigen, das „nüchtern und selbstkritisch“ zu befragen sei, ob man Ungehorsam gegenüber dem Lehramt der Kirche vor Gott verantworten könne.

Auf lange Sicht hat „Humanae vitae“ nicht nur die Aufbrüche der katholischen Kirche in Richtung einer liberaleren Haltung zur modernen Welt gestoppt, sondern die Kluft aufgezeigt, die sich zwischen den Ansprüchen des Lehramts und den Bedürfnissen der Kirchenmitglieder auftut. So hat die katholische Kirche auch 50 Jahre nach der Enzyklika ein großes Glaubwürdigkeitsproblem, das nirgendwo so deutlich zutage tritt wie in dem Auseinanderklaffen von lehrmäßigem Anspruch und gelebter Wirklichkeit in der Lebensordnung der Menschen.

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