Dieser Tag steht für die deutsche Geschichte

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Feuer! Eine Gewehrsalve zerreißt die Luft – und den Brustkorb von Robert Blum. Mit der Hinrichtung des Frankfurter Paulskirchen-Revolutionärs in Wien wird auch das Ende des ersten Versuchs eingeläutet, auf deutschem Boden die Demokratie einzuführen. Geschehen am 9. November 1848.

Szenenwechsel: „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt, das Alte, Morsche ist zusammengebrochen“, ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Balkon des Berliner Reichstags herab. „Es ­lebe die deutsche Republik!“ 70 Jahre nach Robert Blums Tod wird mit dem Ende der Monarchie dessen Vision Wirklichkeit: die erste deutsche Demokratie, die nach dem Ort der Entstehung ihrer Verfassung sogenannte Weimarer Republik. Geschehen am 9. November 1918.

Fünf Jahre später findet an diesem Tag in München zwar noch der Putsch Adolf Hitlers gegen die angeblichen „Novemberverbrecher“ ein blutiges Ende durch die Kugeln der bayerischen Landespolizei. Nach weiteren 15 Jahren aber inszenieren die nun dennoch an die Macht gekommenen Nazis einen vorgeblichen Ausbruch des Volkszorns der Deutschen gegen ihre jüdischen Mitbürger. Die Pogrome, in der Nazizeit als „Reichskristallnacht“ verhohnepipelt, sind ein Vorbote des Holocausts und machen den 9. November 1938 zu einem der schwärzesten Tage der deutschen Geschichte.

Zum 80. Mal jährt sich nun dieser unselige Tag. Dennoch ist dieser Tag zugleich auf ewig mit einem freudigen Ereignis verknüpft, das in seiner Bedeutung für die Deutschen der Ausrufung der Weimarer Republik gleichkommt: Am 9. November 1989 tritt der SED-Informationssekretär Günter Schabowski vor die Presse und verkündet mit einem denkwürdigen Gestammel die Öffnung der DDR-Grenzen. Es folgt die deutsche Wiedervereinigung. Die wird nun Jahr für Jahr am „Tag der Deutschen Einheit“ gefeiert – aber keineswegs an jenem Schicksalstag, dem 9. November. Stattdessen legte der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 fest, dass die DDR am 3. Oktober desselben Jahres der Bundesrepublik Deutschland beitreten und dieser Tag künftig als Nationalfeiertag begangen werde.

Damit wurde eine Chance leichtfertig vertan! Der 3. Oktober ist ein blutleeres, bürokratisches Datum. Ein Nationalfeiertag 9. November gäbe Politik und Gesellschaft eine einmalige Gelegenheit. Er könnte neben die Freude über die Einheit und den ­weltweit anerkannten Status eines freien, demokratischen und prospe­rierenden Deutschlands auch die ­Erinnerung an weitere Wendepunkte der eigenen ­Geschichte stellen – im Guten wie im Schlechten.

Der 500. Jahrestag von Luthers ­Thesenanschlag war im vergangenen Jahr in ganz Deutschland Feiertag. Im Norden Deutschlands bleibt er das, im Osten ist er es schon länger, der Rest diskutiert. Das wäre ein Anlass, über den 9. November nachzudenken.

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