Die Türkei und der Genozid

von Martin Schuck

Martin Schuck

Zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg gehört auch der Blick auf die scheinbaren Nebenkriegsschauplätze. Im August 1915 meldete der Innenminister des Osmanischen Reiches, Mehmet Talaat, an die deutsche Botschaft in Istanbul, die armenische Frage existiere nicht mehr. Vier Monate vorher, am 26. April, begann die Deportation der armenischen Bevölkerung aus dem Osten Anatoliens. Mehr als eine Million Armenier wurden erschossen oder starben auf der Flucht. Aber auch Talaat selbst wurde zum späten Opfer des von ihm betriebenen Völkermords: 1921 wurde er in Berlin von einem armenischen Studenten auf offener Straße erschossen.

Der Prozess gegen den Studenten endete mit dessen Freispruch wegen zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit. Die eigentliche Sensation bestand aber darin, dass ein Gutachten des evangelischen Pfarrers und Armenien-Experten Johannes Lepsius zutage brachte, dass Talaat, der unter falschem Namen in Berlin lebte, 1919 von einem türkischen Kriegsgericht wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“ zum Tode verurteilt worden war. Der Prozesses machte auf einen polnischen Jurastudenten namens Raphael Lemkin einen so starken Eindruck, dass dieser für die Verbrechen an den Armeniern den Begriff Genozid prägte. Lemkin unternahm als Erster den Versuch einer juristischen Definition dieses Begriffs und prägte damit die Genozidkonvention der Vereinten Nationen. Obwohl kein anderer Völkermord der neueren Geschichte so gründlich erforscht ist, benimmt sich die türkische Regierung, sobald irgendwo über die Armenier geredet wird, immer noch wie der berühmte Geisterfahrer, der sich als Einziger in die richtige Richtung fahren sieht. Souveränität im Umgang mit der eigenen Geschichte sieht anders aus.

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