Die Dokumentation: „Hinaus ins Weite“

EKD reagiert mit elf Leitsätzen auf Rückgang der Mitgliederzahlen und der gesellschaftlichen Akzeptanz

Digitale Chancen: Ratsvorsitzender Bedford-Strohm beim Video-Interview. Foto: epd

Die Kirche der Zukunft bleibt Gottes Kirche; sie wird aber eine Kirche mit weniger Mitgliedern und weniger Ressourcen sein. Die Gründe für den prognostizierten Rückgang sind nicht nur demografischer Art. Christlicher Glaube hat für viele Menschen an Relevanz verloren. Die Bindungskraft der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und ihre gesellschaftliche Bedeutung haben abgenommen. Die Krise der Akzeptanz von Kirche und ihrer Botschaft geht einher mit einer tiefer liegenden Glaubenskrise.

Daher ist die Frage nach der Zukunftsperspektive eine geistliche. Es geht um mehr als um Sparmaßnahmen, Rückbau und effizientere Strukturen. Dass Ressourcen abnehmen, bedeutet nicht, dass Chancen für Kirche weniger werden. So wie sich der Glaube situativ und biografisch wandelt, indem er sich vom Evangelium her immer wieder erneuert, wird sich auch die Kirche wandeln, um ihrem Zeugnisauftrag gerecht zu werden.

Die Corona-Pandemie wird unsere Gesellschaft nachhaltig verändern: Auch für die Kirche wird die Rückkehr zum Zustand vor der Krise ebenso wenig möglich sein wie der Rückzug in den privaten Bereich oder die Verschiebung öffentlichen Lebens in den virtuellen Raum. Andererseits hat die Corona-Krise vor Augen geführt, wie viel kreatives Potenzial die evangelische Kirche kurzfristig aufbringen kann, um die Gemeinschaft des Evangeliums auch unter veränderten Bedingungen zu leben. Es braucht Mut, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und neue Wege zu erproben.

Die Krise wird zur Metapher: Wie begegnen wir der lähmenden Bedrohung eines unsichtbaren, potenziell tödlichen Virus? Wie kommen wir aus der Defensive des Rückzugs, des Lockdowns, der sozialen Distanzierung heraus in die Offensive einer verantwortlichen und zugleich zuversichtlich gestaltenden Perspektive kirchlicher Gemeinschaft? Das biblische Motto „Hinaus ins Weite“ aus dem Dankpsalm Davids nimmt den reformatorischen Impuls für eine Kirche der Freiheit auf, im dankbaren Wissen darum, dass Freiheit beides ist: göttliches Geschenk und Verheißung, aber auch gestalterische Verantwortung und Herausforderung. „Hinaus ins Weite“ unerschlossener und offener Möglichkeiten und Chancen einer evangelischen Kirche, die Teilhabe ermöglicht, Gemeinschaft lebt und ihren Glauben authentisch bezeugt.

Eine kleinere Kirche wird daher öffentlich wirksam bleiben; sie wird dies aber mehr denn je nur in ökumenischer Verbundenheit tun können. Das entspricht ihrem Auftrag als Teil des Leibs Christi und Zeugin für das Evangelium von Jesus Christus. So wenig Kirche in der Gesellschaft aufgeht, so wenig kann sie sich von ihr abschotten. Deswegen scheidet ein Kirchenverständnis aus, das Kirche lediglich als (weiteres) Angebot neben vielen in einer pluralistischen Gesellschaft beschreibt und alle konstitutiven Differenzen zur Gesellschaft einebnet. Ebenso wenig kann ein Kirchenverständnis maßgeblich sein, das Kirche als einen Sonderraum des Heiligen definiert und die Gesellschaft sich selbst überlässt.

Öffentlichkeit: Zukünftig wird gezielter öffentliches Reden und diakonisches Handeln der Kirche gefördert, das geistliche Haltung und ethische Verantwortung glaubwürdig und erkennbar verbindet. Die Kirche wird sparsamer und konkreter zu gesellschaftlichen Prozessen öffentlich Stellung nehmen. Sie wird Zurückhaltung üben, wo der Rückbezug auf das Evangelium nicht deutlich und der Zusammenhang mit dem eigenen Handeln nicht exemplarisch erkennbar werden.

Frömmigkeit: Zukünftig wird die Weitergabe evangelischen Glaubenswissens an Bedeutung gewinnen. In einer pluralen Gesellschaft, in der Christen in der Minderheit sein werden, gilt es, die Förderung authentischer Frömmigkeit, die Anliegen einer diakonischen, auf Teilhabe zielenden Bildungsarbeit und die Stärkung der öffentlichen Dialogfähigkeit neu auszubalancieren. Das kann helfen, kirchliche Traditionen neu als spirituelle Ressource zu entdecken und neue Formen geistlichen Lebens zu entwickeln.

Mission: Zukünftig wird missionarisches Handeln gefördert, das partnerschaftlich, dialogisch und situativ vorgeht. Sprachfähigkeit, Dialogbereitschaft und ein authentisch gelebter Glaube sind für ein kommunikatives Handeln der Kirche unerlässlich, das wahrheitsfindend und glaubensfördernd wirkt und Teilhabe ermöglicht. Es wird weniger kirchliche Angebote geben, die auf eine Einwegkommunikation setzen, bei der die Kirche als Anbieter oder Veranstalter auftritt und die Menschen lediglich als Empfänger, Hörer oder Teilnehmer in den Blick kommen. Die Finanzierung von Kooperationsprojekten wird wichtiger werden als die Erhaltung von Institutionen oder Strukturen.

Ökumene: Zukünftig wird ein ökumenisches Miteinander gestärkt, das konfessionelle Vielfalt als Reichtum wertschätzt und die Möglichkeiten eines gemeinsamen und stellvertretenden Handelns in den Mittelpunkt stellt. Die theologische und geistliche Wertschätzung der Unterschiedlichkeit wird die Basis für mehr Gemeinsamkeit sein. Es gilt, so viel wie möglich gemeinsam zu tun, aber auch so viel wie nötig unterschiedlich sein zu lassen.

Digitalisierung: Zukünftig werden mediale Gestalten der Kommunikation des Evangeliums gefördert, die die Chancen digitaler Kommunikation aufnehmen und mit bestehenden Formen evangelischer Frömmigkeit und Gemeinschaftsbildung verbinden, sodass sich digitale und analoge Sozialformen des Glaubens wechselseitig ergänzen und stärken. Der Stellenwert traditioneller Printmedien im kirchlichen Raum wird abnehmen. Besonders gefördert werden Formate kirchlicher Arbeit, die dem jeweils aktuellen Stand einer angemessenen Kommunikation des Evangeliums gerecht werden.

Kirchenentwicklung: Zukünftig werden Initiativen und Impulse gefördert, die Individualisierung ernst nehmen, unterschiedliche Gemeinschaften in ihrer spirituellen Entwicklung stärken und verschiedene Formen kirchlicher Bindung und Zugehörigkeit ermöglichen. Parochiale Strukturen werden sich wandeln weg von flächendeckendem Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung. Unverbunden agierende, selbstbezügliche Ins­ti­tu­tio­nen und Arbeitsbereiche auf allen kirchlichen Ebenen werden aufgegeben.

Zugehörigkeit: Zukünftig wird die Kirche ihr Interesse an Menschen verstärken, die sich auch ohne Mitgliedschaft der Kirche verbunden fühlen, und neue partizipative Formate und Formen der Zugehörigkeit entwickeln. Die Bedeutung finanzieller Mitbestimmung und einer begrenzten Entlastung auch im Bereich von Kirchensteuern wird zunehmen. Ein vertieftes Nachdenken über die konkrete Wertschätzung, die sich mit einer verlässlichen Kirchenmitgliedschaft verbindet, ist notwendig – ebenso wie ein Nachdenken über alternative Formen finanzieller Beteiligung von Menschen, die sich ohne formelle Mitgliedschaft der Kirche zugehörig fühlen.

Mitarbeitende: Zukünftig werden Initiativen gefördert, die Mitarbeitende im Blick auf den evangelischen Glauben zum authentischen Handeln befähigen und ihre Sprachfähigkeit befördern. Unterschiede zwischen haupt- und ehrenamtlicher Tätigkeit werden abgebaut und Beschäftigungsmöglichkeiten flexibler. Arbeitsbereiche, die nicht im Sinn des gemeinschaftlichen Zeugnisses wirken, werden aufgegeben.

Leitung: Zukünftig soll ein Leitungshandeln gefördert werden, das Koordination und Kooperationen unterstützt, Rahmen vorgibt, inhaltliche Abstimmung fördert und evangelisches Profil nach außen stärkt. Kirchliche Leitung wird weniger hierarchisch funktionieren und weniger selbstbezüglich agieren.

Strukturen: Zukünftig wird eine Organisationsstruktur gefördert werden, die dynamisch auf gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen reagiert, Eigenverantwortung stärkt und Freiräume schafft für neue und experimentelle Sozialformen von Gemeinde. Versäulte Strukturen werden abgebaut, eine besonnene Entbürokratisierung durchgesetzt und das Gremienwesen entschlackt. Die kirchliche Verwaltung wird nicht nur kleiner, sondern schlanker und effizienter durch mehr gemeinsames und ein besser koordiniertes Handeln.

EKD/Landeskirchen: Zukünftig werden seitens der EKD Projekte und Institutionen gefördert, die dem eigenen Aufgabenmandat entsprechen oder die durch die Gliedkirchen beauftragt werden. Die Förderung von Arbeitsbereichen, die besser in Gemeinschaft der Gliedkirchen wahrgenommen werden, soll vorrangig ausgebaut werden. Mehrfachstrukturen innerhalb der Gliedkirchen sollen identifiziert und abgebaut werden. Dabei sollen Kompetenzen strategisch bei der EKD oder bei einzelnen Gliedkirchen gebündelt werden.

Der komplette Text mit den Erläuterungen zu den elf Leitsätzen steht auf der Homepage www.ekd.de.

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