Die Bibel lebt von Widersprüchen

von Martin Schuck

Martin Schuck

Gemessen an den bisherigen Päpsten, ist Franziskus an Originalität schwer zu überbieten. Wenn er fordert, die deutsche Übersetzung der Bitte im Vaterunser „Und führe uns nicht in Versuchung“ umzuschreiben und im Sinne der neuen französischen ­Übersetzung zu beten „Lass uns nicht in ­Versuchung geraten“, ist das ein Eingriff in den biblischen Text. Tatsächlich ist die alte, auf Luther zurückgehende deutsche Übersetzung näher am griechischen Original als die neue französische.

Obwohl auch katholische Bibelwissenschaftler den Papst für diesen Vorstoß kritisieren, kann Franziskus auf Zustimmung hoffen, denn quer durch die Konfessionen gibt es einen Trend, dem modernen Bewusstsein anstößige Aussagen in der Bibel und in den kirchlichen Bekenntnissen umzuschreiben oder aufzugeben. So fordert der evangelische Theologieprofessor Klaus-Peter Jörns schon seit Längerem „notwendige Abschiede“, etwa von der Lehre, dass Jesus für die Sünden der Menschen gestorben sei. Und schon im 19. Jahrhundert gab es auch in der Pfalz liberale Pfarrer, die das Apostolische Glaubensbekenntnis abschaffen wollten, weil viele Aussagen der Vernunft widersprechen.

Wenn Franziskus seinen Vorschlag damit begründet, dass nicht Gott, sondern Satan in Versuchung führt, bietet er eine angenehme, leicht konsumierbare Theologie. Leider wird er damit aber der Anstößigkeit des Gottes, der in der Bibel bezeugt wird, nicht gerecht. Nicht nur das Vaterunser, auch die Geschichte vom Baum der Erkenntnis, das Buch Hiob und andere Stellen, wo Gott Menschen in Versuchung führt oder undurchschaubar erscheint, müssten umgeschrieben werden. Aber der Traum einer widerspruchsfreien Bibel wäre das Ende christlicher Theologie.

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