Affront für die russische Kirche

von Martin Schuck

Martin Schuck

Martin Luther hatte recht, als er zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche unterschied. Die unsichtbare Kirche ist die Gemeinschaft all derer, die zu Jesus Christus gehören, und nur Christus weiß, wer wirklich dazugehört. Anders ist es mit der sichtbaren Kirche. Hier gilt das Gleiche wie für­ ­alles andere Irdische: Kirchen sind Organi­sationen, die irgendwann gegründet werden, sich spalten oder mit anderen fusionieren, vielleicht sogar irgendwann sang- und klanglos verschwinden.

Das gilt auch für die orthodoxen Kirchen in der Ukraine. Dass sich dort nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Teil der Kirche von Moskau getrennt hat und eine weitere orthodoxe Kirche neu gegründet wurde, ist auch in der Orthodoxie ein normaler Vorgang. Überall in Südosteuropa gibt es orthodoxe Kirchen, die sich über die Nation definieren und von einem Metropoliten geleitet werden. Alle diese Kirchen unterstehen dem Patriarchen von Konstantinopel, der in Istanbul ­residiert und eine Art Ehrenvorsitz ausübt.

Das Patriarchat Moskau stand als zweites Zentrum der Orthodoxie immer in Konkurrenz mit dem ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel. Deshalb muss die russische orthodoxe Kirche die Anerkennung der von Moskau unabhängigen ukrainischen Kirche durch Konstantinopel als Affront bewerten. Weil aber Kirchenpolitik in Osteuropa immer auch Instrument der staatlichen Politik ist, wird die Abwendung von Moskau den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine weiter anheizen. Außerdem zeigt sich die Zerrissenheit der ukrainischen Bevölkerung. Die Orthodoxen in der Ostukraine halten weiter fest zu Moskau, und die Westukrainer wenden sich den europäischen Kirchen zu. Russland wird da nicht kampflos zuschauen.

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