1945 und 1933 sind nicht zu trennen

von Hartmut Metzger

Hartmut Metzger

„Mein Opa wollte mich gerade aus dem Haus ziehen, da kam aus der kleinen Gasse gegenüber ein gut gekleideter Mann über die Hauptstraße und sagte zu ihm: Guten Morgen, Herr Erbach.“ Diese Begegnung am 24. März 1945 in Speyer hat der damals 15-jährige Karl-Heinz Wässa in seinen „Erinnerungen“ niedergeschrieben. „Mein Opa drehte sich um und sagte zu seiner Frau Karoline, das war der Jude Böttigheimer. Großes Staunen.“ Seit der Reichspogromnacht 1938 unauffindbar, hatte er jahrelang im Keller einer Speyerer Fotografin gelebt.

Ökumenischer Gottesdienst zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Speyerer Dom: Winfried Sommer zitiert aus den „Erinnerungen“ seines Freunds Karl-Heinz Wässa: „Berthold Böttigheimer war der Einzige von vormals 269 Speyerer Juden, der im Versteck den Krieg und die Naziverfolgung unbeschadet überlebte und auch nach dem Krieg in Speyer wohnen blieb. Ein Großteil der Speyerer Juden hingegen wurde in Auschwitz ermordet.“ Nur der kurze Beitrag eines Zeitzeugen, der mit Mutter und Bruder das Kriegsende in der Krypta des Doms erlebte.

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden die Zeitzeugen rar: ausgerechnet in einer Zeit, in der das Erinnern der beispiellosen deutschen Verbrechen und der Zivilisationsbruch des millionenfachen Mordes an Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Kranken und politisch wie religiös Verfolgten einem Teil der Bevölkerung abhanden gekommen ist. Ein Alarmzeichen dieser Geschichtsvergessenheit ist auch die bizarre Debatte über den 8. Mai 1945 als Feiertag, die zu denkwürdigen Profilierungsversuchen und Polarisierungen führt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Ansprache zum Kriegsende daran erinnert, dass die Befreiung am 8. Mai 1945 von außen kam, dass die innere Befreiung aber erst begann. Er hat auch an den berühmten Satz Richard von Weizsäckers erinnert: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Aber – in seiner richtungsweisenden Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes – sagte von Weizsäcker auch: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Grund zum Feiern.“ Vor 35 Jahren erinnerte er daran, dass der eine heimkehrte und der andere heimatlos wurde, dass für den einen die Befreiung und für den anderen die Gefangenschaft begann, dass die einen verbittert vor zerrissenen Illusionen und die anderen dankbar vor einem geschenkten Neuanfang standen.

Im Erinnern an diese bis heute wirksame Zerrissenheit der ­deutschen Bevölkerung im Jahr 1945 macht es erst wirklich Sinn, den Verantwortungsleugnern des Jahres 2020 die zeitlosen Sätze Richard von Weiz­säckers entgegenzuhalten: „Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn der ­Gewaltherrschaft, die zum Krieg ­führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

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