Die Menschheit hat unverschämtes Glück

von Nils Sandrisser

Nils Sandrisser

Den Namen Wassili Archipow kennt kaum jemand. Dabei hat er wahrscheinlich unser aller Leben gerettet, als die Welt 1962 am Rande einer nuklearen Katastrophe stand, weil die UdSSR Atomraketen auf Kuba stationiert und so die Kuba-Krise ausgelöst hatte. 70 Jahre nach Hiroshima ist es Zeit, an ihn zu erinnern.

Archipow war Offizier an Bord eines sowjetischen U-Boots. Ein US-Zerstörer ortete das Boot und warf Wasserbomben, um es zum Auftauchen zu zwingen. Was über Wasser keiner ahnte: Die Kommunikationsanlage des U-Boots war defekt, die Verbindung nach Moskau abgerissen. Die Besatzung wusste nicht, ob der Atomkrieg schon begonnen hatte. Sie hörte nur die Explosionen. Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, das US-Kriegsschiff über sich loszuwerden. Denn sie hatten einen Torpedo mit nuklearem Gefechtskopf an Bord. Für einen Atomwaffeneinsatz war die Zustimmung von drei Offizieren notwendig. Archipow sagte Nein. Er hatte die Nerven behalten.

Genau wie Stanislaw Petrow. Er saß 1983 in einer Moskauer Überwachungszentrale und beobachtete per Satellit amerikanische Raketenbasen, als das System den Start mehrerer Atomgeschosse meldete. Es sah wie ein US-Erstschlag aus. Trotzdem entschied sich Petrow als leitender Offizier der Zentrale dagegen, die Nachricht an das Oberkommando weiterzugeben, das einen Gegenschlag ausgelöst hätte. Er wartete lieber ab. Und behielt recht: Die technisch nicht ausgereiften Satelliten hatten Sonnenreflexionen für Raketenstarts gehalten.

Vertreter von Atommächten behaupten gern, dass nukleare Sprengköpfe den Frieden sicherten. Es schießt nur dann keiner, wenn klar ist, dass er dann als Zweiter stirbt, so geht die Begründung. Und nur das Gleichgewicht des Schreckens habe verhindert, dass der Kalte Krieg konventionell ausgefochten worden sei. Vielleicht ist da ja sogar etwas dran. Aber wir werden nie erfahren, ob das tatsächlich stimmt – denn Historikern ist die Frage „Was wäre gewesen, wenn …?“ ein Gräuel. Niemand kann solche Fragen seriös beantworten. Selbst wenn man alle Nuklearsprengköpfe abrüsten würde – das Wissen, wie man sie baut, kann man nicht aus der Welt schaffen. Und wer dann doch als Einziger eine Atombombe oder zwei besitzt, der könnte eher versucht sein, sie einzusetzen, wenn er weiß, dass er selbst auf jeden Fall überlebt.

Auf der anderen Seite bietet eine Balance an Megatonnen keinesfalls sicheren Schutz vor der Vernichtung. Denn da wäre ja noch der Faktor Mensch. Es gibt Unfälle, es gibt Missverständnisse, wie beschrieben. Im Zeitalter der asymmetrischen Kriege gibt es auch Zeitgenossen, die in religiösem oder ideologischem Wahn eine „schmutzige Bombe“ bauen und einsetzen könnten. Die Menschheit hatte jedenfalls gleich zweimal unverschämtes Glück, dass Menschen wie Archipow und Petrow an den entscheidenden Schaltern saßen.

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