Freistaat Flaschenhals

Die unglaubliche Besatzungsgeschichte der Jahre 1919 bis 1923 – ­Eine Tourismus-Initiative hält sie lebendig • von Hartmut Metzger

Lorch am Rhein: Hier wurde 1919 der Freistaat ausgerufen. Fotos: pv

Die 50-Pfennig-Banknote und die Karte mit den drei Besatzungszonen und den drei Brückenköpfen, in beiden ist der Flaschenhals markiert.

Es ist keine der alten Sagen vom Rhein. Es ist eine Posse der Besatzungsgeschichte, die heutzutage einer kleinen Tourismus-Initiative im Oberen Mittelrheintal ­augenzwinkernd als Werbemittel dient: Nach dem Ersten Weltkrieg übersahen die Besatzungsmächte einen kleinen Landstrich, der einem Flaschenhals ähnelt. Der Bürgermeister von Lorch rief daraufhin den Freistaat Flaschenhals aus, führte ­bunte Geldscheine ein – und die Region wurde zum Schmugglerparadies.

Es wird eng im Weingut Nies in Lorchhausen am Mittelrhein, als Staatspräsident Peter Josef Bahles die Besucher der kulinarischen Weinwanderung durch die Weinberge und das historische Lorch begrüßt. Etliche zottelige Hunde tummeln sich in der Weinstube zwischen den Beinen der Besucher, die sich an einem Samstagvormittag über erste Häppchen und einen guten Secco freuen. Auch Theodor Nies ist bester Dinge – aber nein, Finanzminister sei er nicht. Dieses Amt habe seine Frau Brigitte übernommen.

Der große Zuspruch an diesem Samstag hat die heutige „Regierung“ des Freistaats Flaschenhals überrascht. Drei Gruppen hat sie gebildet, um die rund 100 Besucher der Weinwanderung führen und verköstigen zu können. Und es wird wohl bald noch enger werden. Zum einen ist diese Tourismus-Initiative, die mit einem eigenen „Reisepass“ wirbt, einfach genial. Zum anderen hat dieser Freistaat Flaschenhals einen historischen Hintergrund, der schlicht unglaublich ist.

Es war Gilbert Sulek, der inzwischen verstorbene Inhaber des Lorcher Campingplatzes, der 1994 auf die Idee kam, die einmalige Zeitspanne des kleinen Landstrichs in den Jahren 1919 bis 1923 unter dem Namen Freistaat-Flaschenhals-Initiative zu vermarkten. Als Grund nannte er frank und frei, um „den Weinbau und Fremdenverkehr in dem Gebiet rund um Kaub und Lorch zu fördern“. Seither ist eine Initiative aktiv, die von Weingütern, Hotels und dem Campingplatz betrieben wird.

Bekannt wurde die Freistaat-Flaschenhals-Initiative, als sie 1998 eine eigene Münze zum Preis von 30 Mark als Zahlungsmittel prägen ließ. Inzwischen ist auch die Regierung des „Freistaats“ mit Winzern und Hoteliers gut besetzt. Neben dem Präsidenten und der Finanzministerin gibt es das Auswärtige Amt, das Ministerium des Inneren, das Ministerium für Wirtschaft und Technologie sowie das Ministerium für Tourismus und Internet. Und es gibt besagten „Reisepass“, der seinem Inhaber allzeit „freie Fahrt“ durch das Territorium des historischen Freistaats sowie einige kulinarische Vergünstigungen gewährt.

Dieser kleine Freistaat, der vom 10. Januar 1919 bis zum 25. Februar 1923 tatsächlich existierte, ist eigentlich ein Treppenwitz der Kartografie: Die Geschichte beginnt mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands-Abkommens am 11. November 1918 im Wald von Compiègne. Zusätzlich zur Besetzung des linken Rheinufers verlangten die Siegermächte eine rechts des Rheins gelegene Besatzungszone. Drei Brückenköpfe sollten verhindern, dass Deutschland die im Rheinland vorhandenen Bodenschätze und Industrieanlagen nutzt, um wieder aufzurüsten.

Daher wurde mit einem Zirkel ein jeweils 30 Kilometer breiter Halbkreis um drei linksrheinische Städte geschlagen. Die im Halbkreis liegenden rechtsrheinischen Gebiete wurden von den alliierten Truppen besetzt. In den Brückenkopf Köln marschierten die Briten ein, in den von Koblenz die Amerikaner und in den Brückenkopf Mainz die Franzosen. Selbstverständlich hatten die Siegermächte geplant, dass sich die Kreise überschneiden und kein Gebiet zwischen den Brückenköpfen unbesetzt blieb. Doch zwischen Mainz und Koblenz ging das gründlich schief.

Die Kreise überschnitten sich nicht, und zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone blieb jener kleine Landstrich frei, der optisch dem Hals einer Flasche glich. Diese Region war Teil des unbesetzten Deutschlands. Sie erstreckte sich von Bodenthal bei Lorch bis zum Roßstein bei Kaub, führte weiter bis Laufenselden im Taunus und schloss Gemeinden wie Strüth, Michelbach, Egenroth, Zorn oder Panrod ein. Zwischen Zorn und Egenroth war der schmale Streifen, der immerhin etwas mehr als 17 000 Einwohner beherbergte, eben mal 800 Meter breit.

Dieser Landstrich gehörte keinem Besatzungsgebiet an und war auch vom Deutschen Reich geografisch, technisch und infrastrukturell weitgehend abgeschnitten. Die bisherigen Straßen- und Bahnverbindungen führten längs des Rheins. Sie standen den Menschen nicht mehr zur Verfügung, weil die Alliierten ihre Nutzung verboten. Der Austausch von Waren, Gütern, Geld und Informationen war größtenteils lahmgelegt. Der zuständige Landrat von Limburg an der Lahn residierte unerreichbar im Niemandsland, keine Straße oder Bahnstrecke führte dorthin.

Landrat Robert Büchting übergab daher die Verwaltungsaufgaben des Gebiets an den Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischeck, der in diesem Weinanbaugebiet sicherlich nicht ganz bierernst zur „Staatsgründung“ schritt: Am 10. Januar 1919 erklärte er das sich zum Rhein hin öffnende flaschenhalsähnliche Gebilde für unabhängig und telegrafierte an die Behörden, dass „zwischen Bonn und Mainz wenigstens noch ein Streifen wirklichen deutschen Rheines verbleiben soll“.

Staatsrechtlich war damit kein neues Land entstanden, aber die Verkehrsprobleme verschärften sich mit der Zeit. Auch Rheinschiffe hatten im Freistaat Halteverbot. So ließ der Limburger Landrat eine Telegrafenleitung in den Flaschenhals verlegen. Zweimal in der Woche fuhr ein Bauernkarren die 55 Kilometer lange beschwerliche Strecke über Knüppeldämme durch das Nadelöhr in Richtung Osten. Die Waren wurden knapp, die Preise stiegen, und das Papiergeld ging langsam aus.

Als klar wurde, dass die Versorgung des neuen Freistaats auf diese Weise nicht zu sichern war, schritten die findigen Rheinländer zur Nothilfe. Sie druckten ihr eigenes Geld zum Gebrauch im Flaschenhals. Eine 50-Pfennig-Note ließ ihren Besitzer wissen: „Nirgends ist es schöner als in dem Freistaat Flaschenhals.“ Auf einer anderen Banknote war zu lesen: „In Lorch am Rhein, da klingt der Becher, denn Lorcher Wein ist Sorgenbrecher.“ Weil man Geld aber nicht essen kann, mussten auch Waren besorgt werden. Nach Lage der Dinge ging dies nur durch die beiden angrenzenden Besatzungszonen: also durch Schmuggel.

Immer häufiger trieben Bauern aus den besetzten Gebieten nachts Kühe und Rinder über die Grenze. Winzer brachten karrenweise Kohle über Waldwege in den Freistaat. Bezahlt wurden die Schmuggler natürlich nicht mit dem selbst gedruckten Notgeld, sondern mit der einzigen Ware, die bis heute im Flaschenhals in rauen Mengen vorhanden ist: selbst gebrannter Schnaps und vor allem Wein. Der Freistaat wurde zum Umschlagort für Waren aus den Besatzungszonen ins unbesetzte Deutschland, weil dort höhere Preise zu erzielen waren. Selbst entkommene Kriegsgefangene und politische Flüchtlinge wurden nachts über seine Grenzen geschleust.

Dem französischen Kommandeur war die kleine Exklave von Anfang an ein Dorn im Auge – der florierende Schwarzhandel umso mehr. So ließ er am linksrheinischen Ufer starke Scheinwerfer zur Überwachung der Grenze aufstellen. Laut „Staatsgründer“ Pnischeck hat eines Tages „eine Reihe deutscher Buben“ dagegen protestiert, indem sie „unter der Entblößung ihrer Sitzfläche in der Sprache Götz von Berlichingens ihre Auffassung hinüberscheinwerferten, wofür sie nun auch noch kostenlos bestrahlt wurden“. Dennoch setzten sich schließlich die Franzosen durch.

Nach vier Jahren des fantasievollen Protests und passiven Widerstands wurde der Freistaat Flaschenhals am 25. Februar 1923, wenige Tage nach der Ruhrbesetzung, von marokkanischen Hilfstruppen der französischen Armee besetzt – und Pnischeck verhaftet. Als die Franzosen im November 1924 abzogen, endete die Existenz des Freistaats Flaschenhals – vorläufig, wie die seit 1994 tätige Initiative zeigt.

Viele Geschichten aus diesen unglaublichen vier Jahren sind auf der Wanderung durch die Weinberge im Flaschenhals und an den sechs Stationen seiner Winzer zu erfahren: Geschichten über den steten Streit mit den Franzosen und das stillschweigende Wegsehen der Amerikaner, über Widerstand, Verhaftungen und einen geklauten Kohlezug. „Anträge auf Einbürgerung werden wohlwollend entgegengenommen“, heißt es am Ende des Tages, als sich einige Weinwanderer nochmals am Ausgangspunkt, in der Weinstube der Finanzministerin, versammeln. Und so manch einer verlässt an diesem Tag als „Doppelstaatler“ mit dem roten „Reisepass Freistaat Flaschenhals“ in der Hand beschwingt das Lokal.

Zum Weiterlesen: Stephanie Zibell und Peter Josef Bahles: Der Freistaat Flaschenhals. Historisches und Histörchen aus der Zeit zwischen 1918 und 1923. ­Societäts-Verlag Frankfurt, 2009. 144 Seiten, 10 Euro. ISBN 978-3-7973-1144-3

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