Das zweite Leben des Georg Philipp Telemann

Am 25. Juni vor 250 Jahren stirbt Georg Philipp Telemann – Sein kirchenmusikalisches Erbe ist bis heute im Aufführungskanon ­unterrepräsentiert

Hat nach aktuellem Wissensstand alleine 1900 Kirchenkantaten und 46 Evan­gelien-Passionen geschaffen, insgesamt finden sich im Werkkatalog aktuell rund 3600 erfasste Kompositionen: Georg Philipp Telemann. Foto: epd

Als im März 2015 ein Anno 1735 in Druck gegangenes Exemplar der verschollen geglaubten „Hamburger Fantasien für Viola da Gamba“ in einem Privatarchiv auftauchte, feierte die Fachwelt den Fund euphorisch – purzelten die Erstaufführungen nur so auf die Konzertpodien. Die interessierte Nachwelt konnte dem ohnedies unglaublich üppigen kompositorischen Schaffen des Georg Philipp Telemann erneut eine ­markante Fußnote hinzufügen. Und weiterbasteln an der Reinkarnation eines lange in der Wahrnehmung der Musikrezeption Verschollenen.

Tatsächlich bleibt das Phänomen Telemann bis heute letztlich unergründbar und ist in unregelmäßigen Abständen für Überraschungen gut. Immer mal wieder wird ein Autograf, eine erste Drucklegung entdeckt. Der Werkkatalog von rund 3600 erfassten Kompositionen könnte, so mutmaßt man, auf unbegrenzte Zeit fortgeschrieben werden. Vieles, dessen Existenz durch Zeitdokumente belegt ist, wurde (noch) nicht aufgefunden.

Auch die biografische und rezeptionsgeschichtliche Aufarbeitung hat sich im Falle Telemann auf Segmentbetrachtungen, Essays in Fachzeitschriften, schmale Würdigungen fürs Archivarische beschränkt, ist zu großen Teilen nur noch antiquarisch abruf- beziehungsweise in Bibliotheken einsehbar. Siegbert Rampe, der im Januar 2017 die erste umfassende musikwissenschaftliche Würdigung Telemanns vorgelegt hat, mutmaßt als einen der Verursacher dieses Defizits den Meister selbst: Telemann hat in den Jahren 1718, 1729 und 1740 selbst drei Autobiografien verfasst – und damit, so Rampe, Weggefährten und Nachgeborene quasi der Notwendigkeit enthoben, das Chronistenamt zu übernehmen.

Zu Lebzeiten galt Georg Philipp Telemann, dessen Todestag sich am 25. Juni zum 250. Mal jährt, als der berühmteste Komponist Deutschlands. Einer, dessen kompositorischen Input die Höfe Eisenach und Weimar mit üppigen Apanagen ausstatteten, auch als er schon längst in Frankfurter Diensten stand, den der Leipziger Magistrat für die Stelle des Thomaskantors – und gegen die „Zweitbesetzung“ Bach – vehement und finanziell attraktiv umwarb und den die Hamburger Dienstherren, ebenfalls nicht knauserig, dann doch mit offensiven Angeboten zu halten vermochten. Und auch wenn sich Telemanns Reisetätigkeit mit Ausnahme eines längeren Paris-Aufenthalts 1737 auf Deutschland beschränkte: In Europa genoss er hohe Reputation und wurde in einem Atemzug mit Georg Friedrich Händel genannt.

Nach seinem Tod – 1767 als Folge einer Lungenentzündung – verkehrt sich die öffentliche Wahrnehmung nahezu schlagartig ins Gegenteil. Als das Jahrhundert zur Neige geht, rangiert er nur noch im zweiten Glied der kompositorischen Größen, danach schlummern seine Werke weitgehend stumm in Archiven und Nachlässen. Als „Vielschreiber“ ist er verschrien, die Etiketten „oberflächlich“, „ermüdend“ und „Fabrikware“ präzisieren das, was jedenfalls nicht Produkt fundierter analytischer Betrachtung oder auch nur schlicht unvoreingenommener musikalischer Praxis ist.

Tatsächlich ist man geneigt, Verständnis aufzubringen für das ungläubige Misstrauen der Nachgeborenen angesichts einer nach menschlichem Ermessen unfassbaren Menge an musikalischer Produktion. Telemann, den die Nachwelt lange eilfertig auf seine galanten „Tafelmusiken“ reduzierte, komponierte für sämtliche zu seinen Lebzeiten gängigen Gattungen – Dutzende von Opern für das junge städtische Ensemble in Leipzig beispielsweise. Vor allem aber schuf er Kirchenmusik, zwischen 1722 und 1767 allein 46 Evangelien-Passionen, je elfmal Lukas- und Johannes- und je zwölf Matthäus- und Markus-Passionen. Zudem sind rund 1900 Kirchenkantaten nachweisbar, wobei die tatsächliche Werkzahl wohl weit darüber liegt. Als Erster überhaupt widmete er sich der lutherischen Lied- und Choraltradition und etablierte sie in seinem Schaffensprozess.

Dass Telemanns Kompositionen Vergleichen mit den Fixsternen Bach und Händel standzuhalten vermögen, auch wenn sie jenseits der transzendentalen Frömmigkeit des Leipzigers und der opulenten höfischen Klangmacht des Londoner Meisters angesiedelt sind, ist mittlerweile unumstritten. Telemanns musikalische Rhetorik punktet mit Esprit, Witz, drastischer Textdeutung und einem wahren Füllhorn melodischer Einfälle. Er scherte sich nicht um kompositorisches Regelwerk, auch wenn er es – Autodidakt, wie er war – eher intuitiv verinnerlicht hatte. Gebannt blickte er auf die prickelnden Anregungen der französischen und italienischen „Neuerer“ und nahm sich Zeit seines Lebens die Freiheit zu individueller Innovation. In der musikalischen Erfindung ebenso wie in der institutionellen Aufforstung seines kulturellen und persönlichen Umfelds.

Georg Philipp, am 14. März 1681 als zweites von drei (überlebenden) Kindern des Pfarrers Heinrich Telemann und seiner Ehefrau Maria in Magdeburg geboren, erfährt eine umfassende bürgerliche Bildung und steht bereits mit zwölf Jahren in der Titelpartie der von ihm komponierten Oper „Sigismund“ auf einer Schulbühne. Die Schule besucht er in Zellerfeld, Hildesheim und Magdeburg, bringt es währenddessen unter anderem auf Klavier, Orgel, Geige, Posaune und Schalmei zu beachtlicher Meisterschaft. Das kompositorische Handwerk eignet er sich im Selbststudium an und produziert bereits während der Gymnasialzeit regelmäßig Kirchenmusiken und Schulopern, die er dann auch selbst einstudiert und leitet.

Auf Wunsch der früh verwitweten Mutter widmet er sich in Leipzig zunächst dem Jurastudium, verdient sich aber bald durch Bühnenwerke für das neue bürgerliche Opernhaus der Sachsenmetropole ein Zubrot. Die Musik obsiegt schließlich. Sein musikalischer Stern schnellt pfeilgerade und strahlend in den künstlerischen Olymp und führt ihn auf ungebrochen hoher Bahn über die Residenzen Sorau, Eisenach und Weimar in die freie Reichsstadt Frankfurt, später in die Hanseatische Republik Hamburg, wo er letztlich als wohlbestallter städtischer Musikdirektor Herr über die musikalischen Belange an den fünf Hauptkirchen sowie Leiter der Oper ist.

Nicht genug damit. Wo immer Telemann in Verantwortung steht, möbliert er sein Umfeld mit allerlei Neuerungen, gründet da ein „Collegium musicum“, etabliert dort Konzertreihen in Kirchen, Fabriksälen und auch mal – sehr beargwöhnt – im Wirtshaus. Er gründet eine Musikzeitschrift und kümmert sich um die Veröffentlichung seiner Werke im Eigenverlag. Vor allem literarisch hochgebildet, verfasst Telemann lange Reimgedichte und dokumentiert in geschliffen bilderreicher Rhetorik, doch gänzlich ohne jedes überhöhende Pathos, sein Leben und Wirken in drei autobiografischen Schriften.

Obendrein ist Telemann ein begnadeter Organisator und kühler Rechner. Alle seine Geldflüsse sind akribisch dokumentiert, er besitzt Verhandlungsgeschick, ist umgänglich und konziliant. Solisten, Musiker und Chöre für seine Aufführungen hat er zu engagieren, einzustudieren und zu entlohnen. Alle Werbemaßnahmen für Konzerte liegen in seiner Hand. Was er auf die Beine stellt, hat Hand und Fuß. Und er ist ein treu sorgender und einfühlsamer Familienvater von immerhin zehn Kindern – zwei davon sterben früh –, wobei das eheliche Ungemach der eine tiefe Wehmutsstachel in seinem ansonsten so Erfolg verwöhnten Dasein ist. Die erste Frau, Amalie Louise, stirbt bei der Geburt der ersten Tochter am Kindbettfieber, die zweite Ehe mit der Frankfurter Bürgertochter Maria Charlotte, die ihm immerhin neun Kinder schenkt, endet mit Untreue, Trennung und einer Schuldenlast, die Telemann trotz seines Wohlstands nur mühsam begleichen kann.

Bis fast zu seinem Tode, über einen Zeitraum von 75 Jahren, bleibt Georg Philipp Telemann ein unermüdlich Schaffender, komponiert tagtäglich mehrere Stunden, schreibt mit fliegender Feder und erledigt alle seine Obliegenheiten verlässlich mit der Präzision eines Uhrwerks.

Das mag ein Grund sein, warum vor allem das 19. Jahrhundert mit seinem überhöhenden Geniebegriff und mit Vorliebe kultivierten Bild vom tragisch umwölkten Künstler – von den Menschen verkannt, von den Göttern geliebt – so wenig geneigt war, Telemanns Werk mit unverstelltem Blick zu würdigen.

In jüngerer Zeit mühen sich die Telemann-Gesellschaften Frankfurt und Hamburg sowie die Internationale Telemann-Gesellschaft Magdeburg mit Publikationen, Museumseinrichtungen, Wettbewerben und Veranstaltungen verdienstvoll um eine öffentliche „Auferstehung“. Gertie Pohlit

Telemann-Biografie von Siegbert Rampe

Siegbert Rampe legt pünktlich zum 250. Todesjahr des Komponisten die erste umfängliche, wissenschaftlich fundierte Telemann-Biografie vor. Der 1964 in Pforzheim geborene Cembalist, Organist, Waldorf-Pädagoge und Musikwissenschaftler liefert auf fast 600 Seiten eine detaillierte Chronik der Persönlichkeit, zeigt die Entwicklungsgeschichte und Zeit- und Lebensumstände. Und bedient sich dabei unterschiedlicher Blickwinkel. So ordnet er kritisch Briefe, Zeitdokumente und nicht zuletzt Telemanns autobiografische Texte, auch unter Einbeziehung der teils widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte, in seinen kenntnisreichen Faktenkatalog. Eine längst überfällige Aufarbeitung, die dem Leser Durchhaltevermögen abverlangt. Letztlich aber überaus lohnend. gpo

Siegbert Rampe: Georg Philipp Telemann und seine Zeit. Verlag Laaber, 2017. 569 Seiten, 44,80 Euro. ISBN 978-3-89007-839-7

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