Eine ganze Generation wird bald zum Pflegefall

von Wolfgang Weissgerber

Wolfgang Weissgerber

Die Drei-Liter-Windel braucht kein Mensch. Sie fasst mehr Ausscheidungen, als ein Erwachsener am Tag produziert. Trotzdem gibt es sie – in Pflegeheimen weiß sich das überlastete Personal mitunter nicht anders zu helfen. Die Megawindel ersetzt die Begleitung beim Gang zur Toilette. Dafür ist keine Zeit. Für ein menschenwürdiges Dasein pflegebedürftiger alter Menschen ist jedoch mehr erforderlich als das Prinzip „satt und sauber“. Doch selbst das schaffen viele Heime nicht mehr. Dafür fehlt ihnen die finanzielle Ausstattung, und sie suchen händeringend nach Fachkräften – die es schlicht nicht gibt.

Dazu ist der Beruf zu schlecht bezahlt. Das durchschnittliche Grundeinkommen in der Branche – dort, wo es überhaupt Tarifverträge gibt – beträgt 2600 bis 3000 Euro. Angesichts von Schicht- und Wochenenddiensten sowie hoher körperlicher und nervlicher Belastung ist das alles andere als attraktiv. Entsprechend hoch ist der Krankenstand bei Pflegekräften – 40 Prozent über dem Durchschnitt aller Beschäftigten in Deutschland. An psychischen Erkrankungen leiden weibliche Pflegekräfte sogar doppelt so oft wie erwerbstätige Frauen insgesamt.

Die neue Große Koalition hat zwar bereits verabredet, wie sie die Situation in der Pflege verbessern will. Doch die Absichtserklärungen werden dem Problem nicht im Ansatz gerecht. 8000 zusätzliche Stellen sollen in der Altenpflege entstehen – eine halbe pro Heim. Das ist ein schlechter Witz. Dabei drängt die Zeit. Denn der demografische Wandel schreitet unerbittlich voran. Die Gesellschaft vergreist. In den kommenden Jahren geht die geburtenstarke Generation der Baby-Boomer in den Ruhestand. In spätestens 20 Jahren wird diese Generation zum Pflegefall.

Darauf ist die Infrastruktur in der Pflegebranche nicht im Geringsten vorbereitet. Doch der Ausweg Familie ist versperrt. Schon jetzt sinkt die Bereitschaft der Menschen, Alte und Kranke zu Hause zu pflegen. Das ist keine Frage von Unlust oder Bequemlichkeit, sondern die Folge neuer Verhältnisse. An die Stelle der traditionellen Hausfrau, die sich um Essen, Wäsche, Kinder und die kranke Oma sorgt, sind (mehr oder weniger) gleichberechtigte, berufstätige Paare, Single-Haushalte und Patchwork-Familien getreten. Für die Pflege siecher Eltern bleibt da schlicht keine Zeit. Zudem bringt eine Pflege-Auszeit bei der eigenen Rente Einbußen.

Die Baby-Boomer sind gleich mehrfach gekniffen. Kaum hat das jüngste Kind Studium oder Ausbildung beendet, müssen sie sich um ihre Eltern kümmern. Dann sind sie womöglich schon selbst im Ruhestand. Und wenn sie den endlich genießen könnten, schwinden die eigenen Kräfte. Da die Geburtenrate der vergangenen 50 Jahre aus soziodemografischer Sicht sehr zu wünschen übrig ließ, bleibt die Frage: Wer pflegt dereinst die ­Baby-Boomer? Darauf weiß noch niemand eine Antwort.

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