Zwang schafft kein eigenes Urteil

von Martin Schuck

Martin Schuck

Angesichts der Erstarkung rechtsradikaler Kräfte und nach dem Einzug einer rechtspopulistischen Partei in den Bundestag scheint sich Nervosität ­unter Bildungspolitikern breitzumachen. Die Frage, um die es geht, lautet: Was kann in der Bildungspolitik getan werden, um Jugendliche vor fremdenfeindlichen Einstellungen zu bewahren und, weitergehend noch, aus rechtsradikalen Milieus fernzuhalten? Auf diese Frage kann es schon allein deshalb keine allgemeingültige Antwort geben, weil in den vergangenen Jahrzehnten ganz offensichtlich auch unter Jugendlichen ein schleichender Rechtsruck stattgefunden hat, wie übrigens in vielen anderen Segmenten der Gesellschaft auch. Die Bildungspolitik war demnach bei der Werteerziehung und auch im Bereich der politischen Bildung nicht uneingeschränkt erfolgreich.

Es hört sich an wie ein Reflex auf dieses Teilversagen, wenn nun immer häufiger die Forderung laut wird, Schüler sollten verpflichtet werden, eine Gedenkstätte für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu besuchen. Als Argument wird vorgebracht, ein solcher Besuch sensibilisiere junge Menschen und brächte sie zum Nachdenken, was sie starkmache gegen ­Extremismus und Hass, so etwa kürzlich die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig.

So gut dieses Argument auch klingen mag, sind dennoch Zweifel angebracht, ob die gewünschte Wirkung tatsächlich eintritt. Man braucht nur drei Jahrzehnte zurückzugehen und sich die Geschichtspolitik der DDR vor Augen zu führen, die mit Zwangsbesuchen von Gedenkstätten eben nicht die gewünschte antifaschistische Einstellung sämtlicher Jugendlicher erreichte. Gerade in den neuen Bundesländern gab es schon in den frühen 1990er Jahren ein massives Problem mit Rechtsextremismus. In dieser Zeit gab es schon einmal eine Debatte über den Sinn von verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen, als Richter auf die Idee kamen, junge Neonazis zu solchen Besuchen zu verurteilen. Sie erreichten dabei keine Änderung der Einstellung, sondern ­allenfalls verstärkte Abwehrreflexe.

Es wäre deshalb gut, wenn sich heutige Bildungspolitiker an denjenigen Grundsätzen orientieren würden, die jahrzehntelang gegolten haben, auch wenn diese nicht bei jedem erfolgreich waren. Das Ziel politischer Bildung ist eben nicht die Überwältigung, sondern die Befähigung zum eigenen Urteil; die Bildung eines eigenen Urteils setzt aber voraus, dass es aus freier Einsicht zustande gekommen ist. Die Pädagogen wären daher gut beraten, den Bildungspolitikern zu widersprechen. Ein gutes Lernkonzept setzt auf die pädagogische Kompetenz der Lehrenden und die Fähigkeit zur Einsicht bei den Lernenden. Dabei haben sich die Lehrer an den mentalen und emotionalen Fähigkeiten der Schüler zu orientieren. Da kann es gut sein, dass ein Gedenkstättenbesuch sinnvoll ist. Aber vielleicht auch gerade nicht.

Meistgelesene Leitartikel & Kommentare