Vom Präsidenten zum engagierten Mutbürger

von Klaus Koch

Klaus Koch

Wenn alle demokratisch gesinnten Menschen in Europa mutig ihre Stimme erheben, hat die Vernunft doch noch eine Chance. Altbundespräsident Christian Wulff hat in der Speyerer Gedächtniskirche der Protestation eine fulminante Rede für gesellschaftliche Offenheit, für kulturelle Vielfalt und gegen Angst, Abschottung und Fremdenfeindlichkeit gehalten. Aus dem verdrucksten, tragisch gescheiterten Bundespräsidenten ist ein ebenso gelassener wie engagierter Mutbürger geworden.

Wulff steht zu seinem legendär gewordenen Satz, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre. Doch eine solche Zugehörigkeit hat Folgen. Wer in Deutschland lebt, hat sich an die Regeln des Grundgesetzes zu halten. Für Wulff gehört beides zusammen. Nur wenn jemand in eine Gemeinschaft aufgenommen wird, kann diese verlangen, dass er ihre Vorschriften verfolgt. Es ist Unsinn, einem Menschen zu sagen, er dürfe nicht mitspielen, habe sich aber dennoch strikt an die Spielregeln zu halten. Wulffs Überzeugung von einer integrationsfähigen Gesellschaft gipfelt in der Zuversicht, dass Deutschland die Muslime stärker verändern werde als die Muslime Deutschland.

Und in der Tat besteht Hoffnung, dass Wulffs Optimismus berechtigt ist. Es gibt Anzeichen, dass in Europa etwas vorgeht, das an die Tragödientheorie des griechischen Philosophen Aristoteles erinnert. Erst muss das Publikum Jammer und Schrecken (eleos und phobos) durchmachen, bevor es gereinigt und geläutert (katharsis) das Theater verlässt. Wie erstarrt haben viele Menschen die Hasstiraden der Pegida-Anhänger, den Brexit der Briten und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten verfolgt. Doch jetzt scheint die Stimmung umzuschlagen. Die Holländer haben den Rechtsextremen weit weniger Stimmen gegeben als befürchtet. Die Bewegung „Pulse of Europe“ lockt Tausende auf die Straßen, die Umfragewerte der AfD sinken. Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Franzosen den Front National in die Schranken weisen.

Doch sicher ist diese Umkehr nicht. Terror und Globalisierung verängstigen viele Menschen weiterhin. Und das Internet schafft Räume für die immer gleichen ungeprüften Schreckens- und Falschmeldungen, und durch seine Anonymität ist es ein Instrument für immer hemmungsloser ansteigende Empörungsspiralen gegen die liberale Gesellschaft und ihre Institutionen. Dagegen helfen nur seriöse Informationen und eigenständiges Denken. Und auch da sorgt Wulffs Auftritt für Überraschung. Gerade er, der durch eine, zumindest in weiten Teilen unangemessene, hetzerische und unprofessionelle Medienkampagne aus dem Amt geschrieben und gesendet wurde, hält ein flammendes Plädoyer für Qualitätsmedien als Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Der jüngste Altpräsident Deutschlands füllt dieses nirgends vorgesehene Amt beeindruckend profiliert aus.

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