Das Charisma und der politische Alltag

von Martin Schuck

Martin Schuck

Wie lässt sich erklären, dass eine Partei, die jahrelang bei etwa 20 Prozent dümpelte, plötzlich wieder Siegchancen bei der nächsten Bundestagswahl hat? Die Antwort scheint schnell gefunden: Der bisherige Vorsitzende, oft glücklos und nicht gerade ein Hoffnungsträger, erklärt seinen Rücktritt und ernennt selbst einen Nachfolger.

Nun kann es im politischen Alltag passieren, dass eine solche Geste entweder nichts bewirkt oder sogar nach hinten losgeht. Scheidende Parteivorsitzende ernennen ihre Nachfolger nicht selbst, sondern ein Parteitag muss das richten. Wenn allerdings die bloße Ankündigung und die Präsentation des längst bekannten Politikers als neuer Parteivorsitzender einen derartigen Ruck auslöst wie jüngst bei der SPD, muss der ­designierte Anführer etwas besitzen, was moderne Gesellschaften als Grundlage für Herrschaft längst ausgeschlossen haben – nämlich Charisma. Dass die Delegierten auf dem Parteitag dem Hoffnungsträger eine ­Zustimmung von 100 Prozent bescherten, ist zwar einzigartig in der neueren Geschichte, passt aber genau deshalb ins Bild einer charismatischen Herrschaft.

Der Soziologe Max Weber nannte schon vor etwa 100 Jahren die charismatische Herrschaft das Außeralltägliche, das der rationalen, besonders der bürokratischen Herrschaft schroff entgegensteht. Und vielleicht funktionierte diese Herrschaft wirklich nur in biblischen Zeiten, wo berichtet wird, wie Gott den Israeliten mit Otniel, Ehud und Gideon Richter „erweckt“, die das Land von seinen Feinden befreien. Die Richter wurden bald durch das eher uncharismatische Königtum abgelöst. Und auch die SPD wird einen Plan brauchen für die Zeit, wenn das Charisma von Martin Schulz im Alltag bestehen muss.

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