Wo dem Nikolaus der Marsch geblasen wird

Mit dem Klausjagen hält Küssnacht eine alte Tradition bis heute lebendig • von Günther Schenk

Nächtlicher Lichterzauber: Die bis zu 15 Kilogramm schweren Lichterkappen auf den Köpfen der Männer haben die Form von Bischofsmützen. Foto: Schenk

Motive sind der heilige Nikolaus, Kirchen, oder Figuren, die an der mehr als 250 Jahre alten Küssnachter Tradition teilnehmen. Fotos: Schenk

Renn auf mich zu“, instruiert der deutsche Kameramann den schwarzen Gesellen, „schwing wild deine Rute, schreie und springe!“ Ganz ohne Regieanweisungen kommt sein Kollege aus Japan aus, der dem Herrn im Bischofsgewand mit seiner Fernsehkamera zu Leibe rückt. Für die Medien aus aller Welt, die Jahr für Jahr zur Berichterstattung an den Vierwaldstätter See reisen, sind die Rollen beim Klausjagen in Küssnacht klar verteilt. Schmutzli heißen die Bösen, die in dunklen Kutten und geschwärzten Gesichtern den Guten begleiten. Samichlaus heißt der in der Schweiz. Hinter dem Namen verbirgt sich der heilige Nikolaus, der mit Bischofsstab und Mitra jährlich zu seinem Namenstag ganz würdevoll durchs Dorf schreitet. „Das Klausjagen in Küssnacht“, doziert der Heiligendarsteller in die Kameras, „ist der schönste Nikolausbrauch Europas!“

In Küssnacht, der einwohnerstärksten Gemeinde im Kanton Schwyz, gibt man sich gern selbstbewusst. In der Heimat Wilhelm Tells sind viele Traditionen lebendig. Am bekanntesten ist das Klausjagen Anfang Dezember, wenn der Mann, der einst den Kindern zu Weihnachten die Geschenke brachte, die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfs erfährt. Monatelang leben die Eidgenossen auf diesen Termin hin, der für die Einheimischen so wichtig wie Weihnachten und Ostern zusammen ist. Schon früh am Abend scharen sie sich mit den Fremden, die zu Tausenden anrücken, an den Glühweinständen entlang der Hauptstraßen, warten auf die große Lichterparade. Fernsehscheinwerfer begleiten Samichlaus und seine Helfer, die Schmutzlis, ins Oberdorf, wo sich der Zug aufstellt. Die Nikolaushelfer zeigen ihre Leinensäckchen mit kleinen Lebkuchen, die sie an Kinder verteilen wollen. Noch stehen die mit ihren Eltern am Straßenrand. Eingepackt in dicke Pullover und Daunenjacken trotzen sie der Kälte, die von den Bergen zum Vierwaldstätter See hinabkriecht.

Viertel nach acht verlöschen die Lampen im Dorf, tönt aus dem nächtlichen Dunkel höllischer Krach. Mit schweren Glocken ziehen viele Hundert Männer und Burschen lärmend durch die Nacht. Lautstark traktieren sie ihre Kuhhörner, als wollten sie mit ihrem Getöse die Welt aus den Angeln heben. Erinnerungen an Wotans wildes Heer weckt der Haufen, das nach germanischem Glauben einst durch die Winternächte tobte. Mit Schafsgeißeln peitschen stämmige Burschen den Zug durch das Spalier der Zuschauer, die erst einmal nur Augen für die in Weiß gekleideten Männer mit den Lichterkappen haben. „Iffele“ nennen die Einheimischen die kiloschweren Kopfbedeckungen. Oder schlicht „Infuln“, was an den Bischofshut, lateinisch infula, erinnert. Bis zu 15 Kilogramm schwer und zwei Meter hoch sind die Prächtigsten.

Fast ständig drehen sich die Männer mit ihren Lichterkappen im Kreis, beugen die Knie vor Freunden und Verwandten, grüßen so und ziehen weiter. Ein rituelles Spiel mit langer Tradition. Genauer betrachtet erinnert es an die Narrenfeste des Mittelalters, wenn sich zum Jahreswechsel die Chorschüler riesige Bischofshüte überstülpten und die Welt für ein paar Stunden auf den Kopf stellten. Von Parodie aber will am Vierwaldstätter See keiner etwas wissen. Ernst und Eifer bestimmen das Treiben der Lichterkläuse, wie die Männer in den weißen Hemden mit rotem Gürtel heißen. Brauchgestalten, die Österreichs Glöckler zu ihren Verwandten zählen.

Über das Alter des Klausjagens wird viel spekuliert. Schon zu heidnischen Zeiten, heißt es bei den Eidgenossen, sei man im Winter lärmend umhergezogen. Greifbar aber wird der Brauch erstmals 1732 in einem Ratsprotokoll. „Wegen den Buben, die durch ihr Hornblasen und Tricheln nächtlicher Zeit die Leute so beunruhigen, ist erkannt, dass bei einem Pfund Busse sie solches in solchem Ungestüm nicht mehr tun sollen.“ Auch in der Folgezeit war wenig Rühmliches zu lesen. Das änderte sich 1928 mit der Gründung der „St. Niklausengesellschaft“. Seit 1933 organisiert die Männergesellschaft den Brauch. Damals verpflichteten sich die Bürger, „das Klausenjagen in würdiger und schöner Form durchzuführen und alle Ausartungen zu vermeiden“.

Aus den bis dahin wenig auffallenden Bischofsmützen, die an den heiligen Nikolaus erinnern sollten, wurden spektakuläre Lichterkappen, deren Baupläne heute fast jedes Kind im Ort kennt. Grundstock sind zwei große Kartons, die wie ein gotisches Kirchenfenster nach oben spitz zugeschnitten werden. Darauf zeichnet man mit Bleistift und Zirkel Ornamente und Figuren. Rosetten, Bänder und Girlanden werden mit einem Stanzmesser herausgestochen und schließlich auf der Innenseite mit buntem Seidenpapier hinterlegt. Ehe die beiden Kartons, die auf einem ovalen Holzbrettchen stehen, an der Seite zusammengeheftet werden, kommen auf ein Holzgestell im Innern noch ein paar Kerzen, die für den nächtlichen Lichterzauber sorgen. Bis zu 800 Arbeitsstunden stecken in den schönsten Exemplaren, die jährlich in der Woche vor dem Fest in der Pfarrkirche ausgestellt werden. In der Regel zeigen sie den heiligen Nikolaus. Aber auch Maria ist manchmal zu sehen oder die Vorderfront des benachbarten Klosters Einsiedeln. Häufig begegnet der Betrachter dem Christusmonogramm „IHS“, was der Volksmund gern mit „Jesus Heiland Seligmacher“ übersetzt.

Die Lichterkläuse ebnen Samichlaus den Weg, den eine Handvoll Fackelträger und drei Schmutzli begleiten. Junge Burschen mit schwarzen Gesichtern, die Schweizer Ausgabe von Knecht Ruprecht sozusagen. Dem Heiligen folgen Hundertschaften mit schweren Glocken. „Trychler“ heißen sie am Vierwaldstätter See, die eigentlichen Klausjäger. Männer und Burschen in weißen Hirtenhemden und schwarzem Gurt. In Fünferreihen sind sie unterwegs, ihr Eisenblech im Gleichtakt vom einen auf den anderen Oberschenkel schlagend. Kilometerweit geht das durch Mark und Bein. Und im Ohr bleibt auch der monotone Dreiklang der Hörnerbläser. Einer weiteren Hundertschaft, die Nikolaus auf Kuh- und Ochsenhörnern den Marsch bläst.

Am Seeufer vor der großen Kirche hat der Zug eine kurze Pause, ehe es zurück ins Dorf geht, wo er sich eine gute Stunde später auflöst. Dann gehen die Lichter wieder an, ziehen die meisten der vielen Tausend Zaungäste aus Küssnacht nach und nach ab. Die Lichterkläuse aber feiern fröhlich weiter. Bis in die Morgenstunden zum Teil, wenn sich die Tapfersten zur letzten Nikolausparade durch den Ort vereinen – zum sogenannten Sächsizügli, bei dem es einigen sichtlich schwerfällt, die riesigen Lichterkappen auf dem Kopf zu halten.

Praktische Hinweise

Das Klausjagen beginnt am 5. Dezember um 20.15 Uhr. Bereits um 14.15 Uhr gibt es einen ebenfalls sehenswerten Schülerumzug. Sollte der 5. Dezember auf einen Samstag oder Sonntag fallen, findet der Brauch schon am Freitag zuvor statt. Das Klausjagen ist ein reiner Männerbrauch, allerdings sind die Frauen beim Bauen der Lichterkappen gern gesehen. Besonders schön ist die Anreise nach Küssnacht mit dem Zug nach Luzern, von wo am Festabend gegenüber dem Bahnhof Sonderschiffe nach Küssnacht und zurück verkehren. Kein Problem sind die nächtlichen S-Bahn-Verbindungen zwischen Küssnacht und Luzern.

Informationen beim Tourismusbüro Küssnacht, Unterdorf 6, 6403 Küssnacht, Schweiz, Tel. 0041 418503330, www.hohlgassland.ch. enk

Nikolausverehrung und Bräuche

Schon im frühen Mittelalter waren die ersten Nikolausreliquien im Abendland aufgetaucht, doch der eigentliche Kult um den Heiligen begann erst, nachdem italienische Kaufmänner seine Gebeine von Myra in Kleinasien ins süditalienische Bari geschafft hatten. Von dort trugen Kreuzfahrer die Kunde vom Nikolaus und seinen Wundertaten über die Alpen. Kaufleute und Schiffer verehren ihn seitdem als Schutzpatron. Wirtsleute, Bäcker und Metzger fühlen sich ihm verbunden, aber auch Männer auf Brautschau und kinderlose Ehefrauen. Bis zu 5000 Gotteshäuser, schätzt die Wissenschaft, waren dem Heiligen gegen Ende des Mittelalters in Europa geweiht.

1222 erklärte die Kirche auf dem Konzil von Oxford den 6. Dezember zu einem der höchsten kirchlichen Feiertage. Fresken, Bilder und Figuren kündeten an Kirchenwänden und Altären vom Leben des Heiligen. Zu den beliebtesten Nikolauslegenden gehörte die von den drei Jungfrauen. Sie erzählte von einem Vater, der seine Töchter „in die offene Sünde der Welt stoßen und von dem Preis ihrer Schande leben wollte“, wie die mittelalterlichen Legendenschreiber Prostitution und Zuhälterei vornehm umschrieben. Wie so oft spielte Nikolaus auch hier den Retter in der Not, ließ dem Mann heimlich Geld zukommen, sodass der seine Töchter glücklich verheiraten konnte. Dieses Rührstückchen war vielen Eltern Anlass, ihren Kindern zum Nikolaustag etwas zu schenken. Süßigkeiten meist, die sie, wie die Goldklumpen in der Legende, ihren Kindern nachts in die Schuhe steckten. Oder in ein Papierschiffchen, das an zwei andere Nikolauswunder erinnerte, an die Geschichte von der wunderbaren Kornvermehrung und die von der Rettung sturmgeplagter Schiffer.

Viel Aufmerksamkeit fand auch die Legende von drei Schülern, die auf der Wanderschaft erschlagen und eingepökelt, vom Nikolaus aber wieder zum Leben erweckt wurden. Es war die Lieblingsgeschichte vieler Klosterschüler, die nicht selten zu Nikolaus dieses Mirakel in Szene setzten. Unter den Scholaren des Mittelalters wurde es zudem üblich, im Dezember einen aus ihren Reihen zum Bischof zu wählen. Seine kurzfristige Herrschaft sollte an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern. Aus dem Spiel um den Kinderbischof entwickelten sich schließlich kleine Umzüge, in deren Rahmen sich zum Nikolaus immer mehr andere Figuren gesellten, vom Engel bis zum Teufel. Waren diese Züge anfangs wohlgeordnet und straff organisiert, sah sich das Konzil von Basel 1435 genötigt, das „Gauckelspiel“ zu verbieten. Zu ihren schärfsten Kritikern gehörte auch Martin Luther, der in ihnen ein Werk des Teufels sehen wollte.

Heftiger noch als er bekämpften seine Anhänger den katholischen Heiligenkult, die für den Nikolaus schließlich den von Luther propagierten „Heiligen Christ“ ins Spiel brachten: eine erwachsene Engelsfigur, die als Christkind bis heute überlebt hat. enk

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