Unterwegs in unbekanntes Terrain

Das Neustadter Vokalensemble widmet sich konsequent dem Genre der zeitgenössischen Kirchenmusik

Gut besucht: Das Konzert des Neustadter Vokalensembles vergangenen Herbst in der Neustadter Stiftskirche. Foto: Mehn

Als Simon Reichert, Kantor für den Kirchenbezirk Neustadt, 2017 vom Gründer und langjährigen Leiter des Neustadter Kammerchors, Ulrich Loschky, auch an dieses Pult bestellt wurde, hatte er sofort präzise Vorstellungen zur Ausrichtung des kleinen, feinen Ensembles. Die Alte Musik, das besondere Steckenpferd des Organisten, Chorleiters und Netzwerkers, hätte sich, speziell in diesem Bereich, als naheliegend empfohlen.

Aber Simon Reichert brennt für ein weiteres Feld, das noch weit mehr der Aufmerksamkeit und vor allem des konzertanten Vollzugs bedarf: Die, wie er findet, sträflich vernachlässigten Areale der zeitgenössischen Kirchenmusik sind es, die er mit Neugier, Freude und überaus fruchtbringend beackert. Und dafür, so legte er postwendend für sich fest, könnte das Neustadter Vokalensemble, wie der Kammerchor seither heißt, das adäquate Medium sein.

„Es gibt eine Fülle herrlicher Jetzt-Musik – warum sie in Schubladen verschimmeln lassen?“ So lautet Reicherts vehementes Bekenntnis. Und sich explizit gerade diesem etwas unpopulären Genre zu widmen, hat sich in der Praxis durchaus bewährt. Denn die Konzerte des rund 20-köpfigen Kammerensembles in der Stiftskirche und bei Gastkonzerten außerhalb sind stets bestens frequentiert.

Die Gründe sind zum einen das stimmliche Charisma und die technische Versiertheit der Ausführenden. Reicherts Kammerchor ist im Grunde ein Semi-Profi-Ensemble, das notentextkundig ein neues Programm in zwei Wochenend-Probeneinheiten im Kasten hat; alle gestalterischen Extravaganzen inbegriffen. Eine Quasi-Solisten-Truppe, die auch mal zwölf- bis 16-stimmig operieren kann.

Und die Neue Musik ist da stimm- und stilbildend zugleich. Sie fordert ein, was an sängerischer Artistik denkbar ist: trittsicheres Blattsingen ebenso wie subtiles Hören, ensemblefähiges Interagieren und durchaus auch exzentrischen Gestaltungswillen. Jana Jehle, mittlerweile Jurastudentin in Frankfurt, C-geprüfte Chorleiterin und organisatorisch Reicherts „rechte Hand“ für das Vokalensemble, schwärmt regelrecht: „Wir wagen uns vor in Terra-incognita-Bereiche der Musik. Das ist immer wieder spannend und bereichernd!“ Damit kann das Neustadter Vokalensemble ein Alleinstellungsmerkmal im regionalen Umfeld für sich beanspruchen.

Wer die Programme der rund 30 Monate seit Reicherts Übernahme durchforstet, kommt schon ins Staunen. Peteris Vasks, Einojuhani Rautavaara, Avo Pärt oder Wolfgang Rihm fügen sich da ein in den Reigen berühmter Komponisten Neuer Musik: Francis Poulenc, Olivier Messiaen, Krzysztof Penderecki oder György Ligeti. Die sind zwar längst etabliert, gleichwohl viel zu selten in Konzertprogrammen präsent. Und sie alle haben denkwürdige Kirchenmusiken geschrieben.

Studentinnen und Studenten, ehemalige Seminarschüler und versierte Chorprofis rekrutiert das Ensemble; wer dazustoßen möchte, muss erst einmal vorsingen. Denn jedes Programm soll nach zwei Studieneinheiten sitzen. Die Besetzung richtet sich projektweise nach dem jeweiligen Bedarf. Immer auch tourt Simon Reichert gerne zu auswärtigen Spielstätten. Frankfurt, Wetzlar, Köln, Koblenz und Mannheim wurden bereits bereist. Mit dem Programm zum Neustadter Orgelsommer 2020 – neue skandinavische Musik – gastiert man diesmal in Reutlingen.

Aktuell allerdings wird mit Händels „Messiah“ ein Abstecher ins barocke Oratorienfach unternommen. Und das Stück kann von den Qualitäten der an den Hürden des zeitgenössischen Repertoires geschulten Truppe, von der Eloquenz der Darstellung und der Transparenz des Klangs nur profitieren. Die Zuhörer können alles ausgiebig genießen. Denn das Opus Magnum wird ungekürzt serviert. Gertie Pohlit

Brillantes Gesangskino mit Melodiereichtum und Ohrwurmgefahr

Neustadter Vokalensemble führt am 2. Februar in der Neustadter Stiftskirche Händels „Messiah“ auf – Komplette christliche Heilsgeschichte

Eigentlich fühlte er sich gerade ein wenig schaffensmüde. Georg Friedrich Händel hatte sich deshalb für 1741 eine schöpferische Ruhepause verordnet. Drei bankrotte „Opernakademien“, permanente Kleinkriege mit überdrehten Diven, Impressarios, launischem Adelspublikum und nicht zuletzt ein Schlaganfall hatten dem Genie aus Halle mit ständigem Wohnsitz in London kurzzeitig den kreativen Flügelschlag gelähmt.

Da schneite Dichter Charles Jennens, der zuvor schon Händels Oratorien „Israel in Egypt“ und „Saul“ getextet hatte, herein. Er drängte den Meister zu einem neuen Projekt. Zeitgleich flatterte eine Einladung zu einem Dubliner Festival ins Haus, und so lenkte der Maestro schließlich ein. Nichts weniger als die komplette christliche Heilsgeschichte sollte das neue Oratorium erzählen.

Jennens gelang beim Libretto zum „Messiah“ ein geschickter literarischer Coup. Er unterteilte das Opus in drei Erzählabschnitte: Verkündigung und Geburt, Passion und Auferstehung sowie Wiederkunft und Apotheose. Dabei verwendete er relativ wenige Texte aus dem Neuen Testament, bediente sich stattdessen bei den Propheten des „Alten Bunds“ und den Psalmen. Er legitimierte dadurch die Person Jesus als den allseits erwarteten Messias.

Händel brauchte zwischen Ende August und Mitte September 1741 eben mal 24 Tage, um die Partitur fertigzustellen. Die Dubliner Uraufführung in der Karwoche 1742 wurde ein grandioser Erfolg. Das Werk hingegen im Konzertbetrieb der Metropole London unterzubringen, war schwierig. Es ließ das puritanische Publikum dort zunächst auf Distanz gehen. Und als es 1743 in Covent Garden erstmals als „New Sacred Oratorio“ aufgeführt wurde, firmierte es sozusagen unter falschem Namen. Der Maestro dirigierte sein Werk regelmäßig zur Kar- beziehungsweise Nachosterzeit, der gewichtigen Teile zwei und drei wegen. Die Aufführungen waren in der Regel Benefizvorstellungen für Gefängnisinsassen, Hospitäler und Kinderheime.

Händels spritzige Musik ist dem Neustadter Vokalensemble auf den stimmlichen Leib geschrieben. Sie ist Textexegese pur, von einem melodiösen Reichtum, dass einem der Kopf schwirrt von all den Ohrwürmern, die man schwer wieder loswird. Und sie ist brillantes Gesangskino. Die Chöre sind nur vordergründig eingängig, zicken mit ihren Koloraturhürden und zuweilen bizarren harmonischen Verflechtungen. Die Arien schwelgen zwischen Innigkeit und plakativ ausgestellter Bravour. Und im Orchestergraben braucht es äußerste Wachsamkeit und Fähigkeit zu virtuosem Überschwang. Mit den Neustadter Vokalisten musizieren Gunta Smirnova, Sopran, David Erler, Altus, Michael Mogl, Tenor, Florian Spiess, Bass, und das „Ensemble 1800“. gpo

Konzert am Sonntag, 2. Februar, 18 Uhr, Stiftskirche Neustadt, Karten zu 23 und 17, ermäßigt 15 und zehn Euro, Buchhandlung Quodlibet, Kellereistraße 10, Neustadt, Telefon 06321/88930.

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