Übervater der Herzen

Nelson Mandela ist eine politische Ikone – Am 18. Juli wäre er 100 Jahre alt geworden

Held einer Nation: Bis heute wird Nelson Mandela in Südafrika ­verehrt, nicht nur in Soweto, wo er von 1946 bis in die 1960er Jahre lebte. Foto: epd

Nelson Mandela wäre am 18. Juli 100 Jahre alt geworden. Foto: epd

von Marc Engelhardt

Als Freiheitskämpfer war Nelson Mandela einst der berühmteste Gefangene der Welt, der 27 Jahre in Südafrika in Haft saß. Nach seiner Freilassung einte er sein zerrissenes Land und führte Schwarze und Weiße in Südafrika zusammen, zumindest vorübergehend. Sein Lebensweg und seine unbeugsame Haltung beeindruckten Menschen rund um die Welt. Bis heute berufen sich Staatslenker auf dem afrikanischen Kontinent auf den Mann, der am 18. Juli 100 Jahre alt geworden wäre. Ernst meinen es die wenigsten.

Als er am 18. Juli 1918 in einem kleinen Dorf in der Provinz Ostkap auf die Welt kam, gaben ihm seine Eltern den Namen Rolihlala, in der Xhosa-Sprache bedeutet das: Unruhestifter. Und das war Mandela, lange bevor er zum Übervater der Nation wurde. Den Vornamen Nelson bekam er in einer Missionsschule verpasst. Sein Vater starb früh. Mandela studierte Jura und entdeckte an der Universität den Afrikanischen Nationalkongress (ANC), der für die Rechte der schwarzen Mehrheit eintrat. Mit seinem Freund Oliver Tambo gründete er 1944 die ANC-Jugendliga, acht Jahre später eröffneten die beiden als erste Schwarze eine Rechtsanwaltskanzlei in Südafrika.

1960 wurde der ANC verboten, Mandela ging in den Untergrund und sprach sich für den bewaffneten Kampf aus. Zwei Jahre später wurde er verhaftet, vermutlich auf Betreiben der CIA. „Ich hoffe auf eine demokratische und freie Gesellschaft, in der alle Menschen in Gleichheit und Harmonie zusammenleben können“, erklärte Mandela vor Gericht, bevor er 1964 im Rivonia-Prozess wegen Verschwörung und Sabotage zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. „Es ist ein Ideal, für das ich lebe, aber wenn es sein muss, bin ich auch bereit, dafür zu sterben.“

Mit seiner Haft begann der Mythos Mandela erst. „Free Mandela“ wurde zum Kampfruf der Anti-Apartheid-Bewegung auf der ganzen Welt. 27 Jahre lang saß er hinter Gittern, davon viele Jahre auf der Gefängnisinsel Robben Island, musste im Steinbruch arbeiten. Am 11. Februar 1990 kam Mandela frei, im Alter von 71 Jahren, und forderte kurz darauf vor Zehntausenden in Soweto Freiheit für alle, nicht nur für die schwarze Mehrheit. 1994 gewann er mit dem ANC die erste freie Wahl, wenige Monate nachdem er zusammen mit dem weißen Ex-Präsidenten Frederik Willem de Klerk den Friedensnobelpreis entgegengenommen hatte.

Innenpolitisch warb Mandela für Versöhnung. Global nutzte der erste schwarze Präsident des Landes seine Strahlkraft und seinen Einfluss, um für Vertrauen in das neue Südafrika zu werben. Nach fünf Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Macht, hörte Mandela auf: Nicht nur in Afrika ist das bis heute eine Seltenheit. Er gründete eine Stiftung, kämpfte gegen die Aids-Epidemie und gründete – mit 89 Jahren – einen „Weltrat der Ältesten“ aus prominenten Un-Ruheständlern wie ihm.

Mit 80 heiratete Mandela zum dritten Mal: Die Witwe des mosambikanischen Präsidenten Samora Machel, Graça. Die Ehe mit der umstrittenen ANC-Kämpferin Winnie Mandela war 1996 endgültig in die Brüche gegangen. In seinen letzten Lebensjahren genoss der sechsfache Vater sein Familienleben mit Enkeln und einer wachsenden Schar von Urenkeln. Als sein einziger Sohn 2005 an der Immunschwäche starb, brach Mandela das Schweige-Tabu: „Lasst uns über Aids sprechen und es wie eine normale Krankheit behandeln.“ Es war einer seiner letzten öffentlichen Auftritte. Am 5. Dezember 2013 erlag er im Alter von 95 Jahren einem Lungenleiden.

Für sein Wirken kannten Afrikas Staats- und Regierungschefs nichts als Lob. Der Triumph des Freiheitskämpfers bewegte noch einmal den ganzen Kontinent: 27 Jahre lang war er inhaftiert gewesen, doch im Moment seines Siegs predigte er Versöhnung und reichte seinen Peinigern die Hand. „Nelson Mandela war unser Held, unsere Ikone, unser Vater“, sagte der damalige tansanische Präsident Jakaya Kikwete 2013 bei der Trauerfeier für Mandela. Und der Nachfolger Mandelas im höchsten Staatsamt Südafrikas, Jacob Zuma, klagte: „Unsere Nation hat ihren größten Sohn verloren.“ Hunderttausende Südafrikaner weinten und trauerten, was nach dem simbabwischen Journalisten Tanonoka Joseph Whande vor allem an Mandelas Persönlichkeit gelegen habe: „Er war anders als die anderen afrikanischen Regierungschefs, die mit ihren Sonntagsreden eigennützige Ziele verfolgten und sich an Gewalt erfreuten.“

Doch während sich schon zu Mandelas Lebzeiten Politiker auf ihn beriefen, die keineswegs seine hehren Ideale teilten, droht nun, 100 Jahre nach seiner Geburt am 18. Juli 1918, sein Erbe zu verblassen. Kaum ein afrikanischer Staatsmann zieht sich wie Mandela freiwillig aus dem Amt zurück, zu viele klammern sich an die Macht, auch mit Gewalt.

In Südafrika wandelte sich der Staat spätestens unter der Präsidentschaft Jacob Zumas ab 2009 in einen kleptokratischen Apparat, von dem eine kleine Clique rund um den Präsidenten und allen voran Zuma selbst profitierte. Im Februar trat er unter massivem Druck zurück und muss sich nun einem Korruptionsprozess stellen. Ob Zumas Nachfolger Cyril Ramaphosa (65), einst Mandelas Vize und Wunschnachfolger, die Rückkehr zu Mandelas Wurzeln gelingen wird, ist unklar – auch weil die von Mandela gepredigte Versöhnung längst Geschichte ist.

Radikale Schwarze wie die „Kämpfer für wirtschaftliche Freiheit“ unter Julius Malema fordern die Enteignung weißer Farmer. Ihr Vorbild: Simbabwes Altpräsident Robert Mugabe, der sein Land in die Diktatur führte und im November 2017 zum Rücktritt gezwungen wurde. Der greise Mugabe zieht inzwischen ganz offen über Mandela und seinen Afrikanischen Nationalkongress (ANC) her. „Ich habe einen ANC-Minister gefragt, warum die Weißen in Südafrika noch so viel Macht besitzen“, meckerte Mugabe 2017. „Er sagte: wegen deines Freundes Mandela.“ Der hatte einst erklärt, dass er nicht nur gegen weiße Unterdrückung, sondern auch gegen schwarze Unterdrückung sei.

Diesen Satz wiederholte US-Präsident Barack Obama bei der Trauerfeier für Mandela. „Auch wir müssen für Gerechtigkeit und Frieden eintreten“, rief Obama. „Zu viele politische Führer beschwören Mandelas Vermächtnis, drangsalieren aber ihr eigenes Volk.“ Das war schon zu Mandelas Zeiten so, etwa als er 1997 versuchte, einen Frieden im Kongo (damals Zaire) auszuhandeln. Machthaber Laurent-Desiré Kabila ließ die Gespräche platzen. Sein Sohn Joseph Kabila lässt heute Demonstranten gegen seine 17-jährige Dauerherrschaft niederprügeln und beschießen.

Bei langwierigen Verhandlungen im tansanischen Arusha schaffte es Mandela immerhin, die Macht einzelner Rebellenführer im Bürgerkriegsland Burundi zu beschränken. Doch der Ex-Rebellenchef und heutige burundische Präsident Pierre Nkurunziza ließ den entsprechenden Passus im Mai aus der Verfassung streichen, um bis 2034 Präsident bleiben zu können – dann wäre er 29 Jahre im Amt, drei Jahre weniger als Ugandas Präsident Yoweri Museveni heute.

Zu den Politikern, die sich als Mandelas Erben verstehen dürfen, zählt nach Ansicht vieler Äthiopier der erst seit Kurzem regierende Ministerpräsident Abiy Ahmed. Bei einer Kundgebung in der Hauptstadt Addis Abeba trat der 42-Jährige Ende Juni vor Hunderttausenden Menschen in einem T-Shirt auf, das ein altes „Free Mandela“-Motiv zeigte: den afrikanischen Kontinent und davor die geballte Faust. Auf den Transparenten seiner Unterstützer standen Mandela-Zitate wie: „Der Mutige scheut sich nicht, im Dienst des Friedens zu vergeben.“

Mandela kann sich gegen die, die seinen Namen missbrauchen, nicht mehr wehren. Noch 2009 hatte er Kongo-Brazzavilles Herrscher Denis Sassou-Nguesso bloßgestellt, der ein angebliches Vorwort Mandelas für eines seiner Bücher erfunden hatte. Im März dieses Jahres verlieh ein fragwürdiges „Nelson-Mandela-Institut“ einen Preis „für besonderen Mut“ ausgerechnet an Burundis Gewaltherrscher Nkurunziza. Besucher der Verleihung sprachen von einer surrealen Szene. Und doch zeigt der Festakt, wie wichtig der Name Mandela bis heute ist – selbst bei denen, die den Freiheitshelden wohl vehement bekämpfen würden, wenn er noch am Leben wäre.

Zeitleiste

18. Juli 1918: Nelson Mandela wird in Mvezo in der heutigen südafrikanischen Provinz Ostkap geboren.
1944: Mandela gründet gemeinsam mit Oliver Tambo die Jugendliga des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC).
1952: Mandela und Tambo eröffnen die erste schwarze Rechtsanwaltskanzlei Südafrikas.
1961: Nach dem Verbot des ANC wird Mandela Anführer des bewaffneten Flügels der Befreiungsorganisation.
1962: Mandela wird zu fünf Jahren Haft verurteilt.
1964: Lebenslängliche Haft wegen Sabotage und Planung eines bewaffneten Umsturzes. Haftantritt auf Robben Island.
11. Februar 1990: Freilassung auf Anordnung von Staatspräsident Frederik Willem de Klerk nach Aufhebung des ANC-Verbots.
1993: Mandela und De Klerk erhalten den Friedensnobelpreis.
9. Mai 1994: Mandela wird zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt.
1999: Ausscheiden aus der aktiven Politik, Gründung der Nelson-Mandela-Stiftung.
11. Juli 2010: Letzter öffentlicher Auftritt zur Schlussfeier der Fußball-WM in Südafrika.
5. Dezember 2013: Mandela stirbt mit 95 Jahren im Kreis der Familie.

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