Süßes auf Pappe

Die Geschichte des bunten Tellers • von Florian Riesterer

In der DDR waren christliche Motive verboten (Teller Mitte, links und unten). Themen wie Kinder und Tiere sind aber auch heute noch beliebt (Teller rechts). Foto: Heimatmuseum Luckenwalde (3), pv

In Form gepresst: Im brandenburgischen Luckenwalde meldete 1867 Hermann Henschel ein Patent auf Pappteller an. Foto: Heimatmuseum Luckenwalde

Es ist eine Kindheitserinnerung. An den Weihnachtsfeiertagen besuchen wir Oma und Opa. Im Wohnzimmer steht wie alle Jahre auch der Weihnachtsbaum, im Arbeitszimmer von Opa die Krippe – inklusive des flackernden Lagerfeuers der Hirten. Fast noch spannender als dieses Detail sind für uns Geschwister die Geschenke unterm Weihnachtsbaum. Und dann sind da noch die süßen Teller.

Jedes Jahr drapierte Oma eine Auswahl von Süßigkeiten, darunter eine Auswahl ihrer Plätzchen, auf bunten Weihnachtstellern. Letztere mochte ich sehr gern, genauso wie die Schokolade. Das bunte Fondant in Form von Sternen ließ ich meistens liegen. Nie fehlen durften Walnüsse und eine einzelne Mandarine. Egal aber, wie der Teller zusammengesetzt war, immer stand am Ende des Weihnachtsbesuchs, wenn sich die Familie schon zum gegenseitigen Verabschieden im Flur drängte, ein ganz besonderes Ritual. Oma nahm die Teller und schütte den bereits im Schwinden begriffenen Inhalt in eine Plastiktüte – für die Fahrt nach Hause. Der bunte Papp-Motivteller aber wanderte in Schränke, um im nächsten Jahr wieder gefüllt aufzutauchen.

Der sogenannte Gabenteller, oder auch bunte Teller, fußt auf einer Tradition des Nikolausfests, sagt Manfred Becker-Huberti. Der Theologe beschäftigt sich seit vielen Jahren mit religiösem Brauchtum. „Im Mittelalter warfen sich die Menschen am Vorabend des 6. Dezember Geschenke zum Fenster hinein“, sagt Becker-Huberti. Dies rührte aus der Legende, deren nach Nikolaus drei Jungfrauen an drei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils einen Klumpen Gold ins Fenster geworfen habe. Doch die ungewöhnliche Geschenkzustellung habe zu Streit geführt, wem welches Geschenk zugedacht war. „Also hat man sich auf die Suche nach personalisierten Geschenkempfangsbehältnissen gemacht“, sagt der Brauchtumsforscher Becker-Huberti.

„Dann stell ich den Teller raus, Niklas legt gewiss was drauf“, sangen die Menschen allerdings damals noch nicht. Teller waren noch unbekannt. „Im Mittelalter aßen alle die Suppe aus einem großen gemeinsamen Topf.“ Stattdessen wurden die Hosen und Strümpfe, die abends am Kamin trockneten, später auch Schuhe oder gebastelte Schiffchen für die Nikolausgaben genutzt. Schließlich war Nikolaus auch der Patron der Seefahrer.

Die ersten Teller kamen erst im 17. und 18. Jahrhundert auf, „markierten den Beginn der Moderne“, sagt Becker-Huberti. Gerne zeigte das Bürgertum mit Porzellantellern an den Wänden seinen Wohlstand. Auch die Entstehung des Lieds „Lasst uns froh und munter sein“ fällt in eben diese Zeit. Der Pappteller wurde erst Ende der 1860er Jahre erfunden.

Heinrich Henschel, ein Buchbindermeister aus dem brandenburgischen Luckenwalde, machte sich damals Gedanken über das hygienische Verpacken von Lebensmitteln. „Fisch und Fleisch wurde ihm immer in Zeitungen eingepackt“, sagt Romas Schmidt, Leiter des Heimatmuseums Luckenwalde, das das Leben Henschels umfangreich dokumentiert. Leider habe immer die Druckerschwärze auf das Essen abgefärbt, sagt Schmidt. Henschel habe daraufhin mit der Druckpresse und Holzschliff, Fasermaterial aus Cellulose, experimentiert – und sei eher per Zufall auf den Pappteller gestoßen.

1867 meldete er sein Patent an. Aus der Buchbinderwerkstatt entwickelte sich eine Papierwarenfabrik, die Tüten, Beutel und eben Pappteller produzierte. Etliche weitere Firmen zogen in Luckenwalde und auch anderswo nach, auch weil die Industrie erkannte, dass sich Pappgeschirre und -trinkbecher „vorzüglich für Irrenanstalten, für die Kinderstube, für die Reise eignen“, zitiert Papierhistoriker Heinz Schmidt-Bachem die Papierzeitung aus dem Jahr 1905, Organ des Vereins Deutscher Buntpapier-Fabrikanten.

Längst wurde der Teller aber nicht mehr nur zu Nikolaus befüllt, sondern auch an Weihnachten. Luther hatte in der Reformation die katholische Heiligenverehrung bekämpft und sich für das Christkind an Heiligabend starkgemacht, das genauso „unerkannt und ungesehen“ die Kinder glücklich macht, berichtet Theologe Becker-Huberti. Ob er das Christkind tatsächlich erfunden hat, hier gehen die Forschungen auseinander. Fakt ist, dass mit der Bescherung an Heiligabend einiges an Tradition übernommen wurde – und so wohl eben auch der Teller.

Dass dieser wiederum zur Weihnachtszeit mit Süßem gefüllt werde, habe mehrere Gründe, zählt Becker-Huberti auf. In vorchristlicher Zeit habe in den Raunächten zwischen Weihnachten und Neujahr alle Arbeit ruhen müssem. Folglich seien zuvor größere Mengen an Gebackenem vorrätig gewesen. Im Mittelalter galt später den Menschen ein Spruch des Kirchenlehrers Augustinus, „Aller Anfang geht mit“. Der Beginn einer Sache sollte also auch über ihren weiteren Fortgang bestimmen. Wer es sich also in den letzten Tagen des alten Jahres gut gehen ließ, den erwartete ein reich beschenktes neues Jahr. Und schließlich seien die Süßigkeiten als Vorgeschmack auf das Himmelsreich zu deuten, sagt Becker-Huberti zu späteren christlichen Deutungen des Brauchs.

Die Äpfel darauf können im Übrigen auf das Paradiesspiel zurückgeführt werden. Das hatte im Mittelalter seinen festen Platz einen Tag vor dem Krippengeburtsspiel. Dargestellt wurde der Sündenfall. Die dafür an grünen Nadelbäumen hängenden Äpfel wurden später zur Dekoration am Christbaum. Ihren Platz nahmen dort später Glaskugeln ein. Die echten Früchte fanden sich ein paar Stockwerke tiefer wieder – auf Tellern.

Optisch hat sich dessen Aussehen ext­rem gewandelt, hat Rita Breuer festgestellt. Die Sammlerin aus Wenden im Sauerland besitzt einige Hundert Weihnachtsteller, viele davon aus Pappe. „Die ersten Weihnachtsteller, die ich als Kind in den Händen hielt, waren noch echte Lithografien, das waren Künstlerstücke“, sagt Breuer. „Heutige haben oft nicht mehr den Charme von früher.“

In den 1960er Jahren fing sie mit dem Sammeln an. Anlass war ein Weihnachtsfest, zu dem sie für ihren Mann einen Baum „wie zu Großmutters Zeiten“ gestalten wollte. Beim Kramen in Kartons entdeckte sie nicht nur ihre Liebe zu alten Christbaumdekorationen. Sie stellte auch fest, wie sich am Weihnachtsschmuck politische oder gesellschaftliche Strömungen ablesen ließen.

Breuer, die Industriekauffrau gelernt hat, fing an, sich in die Geschichte hineinzuarbeiten und mit ihrer Tochter Ausstellungen zu organisieren. „Von wegen Heilige Nacht! – Weihnachten in der politischen Propaganda“ war unter anderem im NS-Dokumentationszentrum Köln zu sehen. Die Ausstellung „Die Nacht der bunten Teller“ zeigten Breuer und ihre Tochter unter anderem in Museen in Hessen und Rheinland-Pfalz.

In der DDR waren christliche Motive verboten. Das war auch die Vorgabe für den Grafiker Gerd Gebert aus Luckenwalde, den das Kombinat für die Gestaltung von Weihnachtspapptellern anfragte. „Engel, Jesuskind, die Heilige Familie, ja sogar Glocken, das ging nicht“, sagt Museumsleiter Roman Schmidt. Gebert habe sich deshalb mit dem Weihnachtsbaum, dem Schneemann oder spielenden Kindern beholfen. Auch Märchen, ohnehin ein Lieblingsthema von Gebert, fanden sich auf den Tellern. Sammlerin Rita Breuer hat DDR-Weihnachtsteller mit der Mondlandung oder Jubiläen von Jugendgruppen. „Das war alles unverfänglich.“ Den Gabenteller füllten nicht der Nikolaus und das Christkind, sondern Väterchen Frost oder das Schneemädchen.

Schön sei, dass die Weihnachtsteller mit Geschichten verbunden sind, erzählt Breuer. Bei einer Ausstellung in Köln hätte eine Besucherin aus der ehemaligen DDR genau das Motiv wiederentdeckt, das sie und ihr Bruder damals unter dem Baum liegen hatten. Noch immer bekomme sie Teller zugeschickt, sagt die 81-Jährige. „Aber die meisten Stücke haben ja leider nie ein Weihnachten überlebt, sind weggeschmissen worden“, sagt Breuer. Dabei seien gerade die benutzten spannend – „mit den Fettflecken vom Gebäck oder der Schokolade“. Eine Mutter hatte die Namen der Kinder auf die Teller draufgeschrieben, „das haben wir so in der Vitrine ausgestellt“. Was viele Menschen in den Gesprächen mit Rita Breuer bestätigen: Fondant gehörte bei den Süßigkeiten auf den Gabentellern einfach dazu. „Aber das blieb meist bis zum Schluss auf dem Teller, weil es keiner essen wollte.“

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