Spazierend die Welt verändern

Vom Geschäftsmodell bis zur Wissenschaft: Der Spaziergang erfährt seit einigen Jahren eine Renaissance

Schritte zur besseren Welt: Bistum und Evangelische Arbeitsstelle Kaiserslautern laden zu fairen Spaziergängen ein. Foto: Mendling

Der Sonntagsspaziergang, Carl Spitzweg, 1841. Foto: wiki

Es ist eine Wissenschaft für sich: Spazierengehen. Früher war der Sonntagsspaziergang für Familien Pflichtprogramm nach dem Sonntagsbraten. Generationen pflegten dieses Ritual – bis der klassische Spaziergang aus der Mode kam. Flanieren, Schlendern, ziellos Umherstreifen passte nicht mehr zu dem durchgetakteten Alltag einer Generation, die ihre Schritte zählt und den Kalorienverbrauch errechnet. Doch der Spaziergang kehrt zurück: als Geschäftsmodell, Wissenschaft, Philosophie und als Weg, die Welt zu verändern.

Chuck McCarthy aus Los Angeles geht für 30 Dollar pro Stunde spazieren – rein beruflich. „The People Walker“, wie er sich nennt, begleitet Menschen in der Mittagspause, zur Arbeit, nach Hause oder beim Flanieren im Park. Seine Aufgabe sei es, zuzuhören, Menschen zu begleiten und auf sie aufzupassen, erzählt der ehemalige Schauspieler. Der Bedarf ist so groß, dass er mittlerweile 40 Mitarbeiter hat. Zu seinen Kunden zählen Frauen, die im Dunkeln Angst haben, alleine nach Hause zu gehen, Leute, die Stress abbauen wollen oder sich etwas mehr Bewegung wünschen. Eine Verabredung zum Spazierengehen helfe, sich zu überwinden, so McCarthy.

„Spazieren schafft Schönheit“ ist das Credo von Professor Martin Schmitz, Spaziergangswissenschaftler an der Kunsthochschule Kassel. Auch er ist professionell unterwegs, wenn er mit seinen Studenten spazieren geht. Gegründet wurde der Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft in den 1980er Jahren vom Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt. Dieser hat die Promenadologie als Wissenschaft ins Leben gerufen, die vor allem für Designer, Städtebauer und Architekten eine wichtige Rolle spielt. Dabei werde der Zusammenhang zwischen Bewegung, Wahrnehmung und Gestaltung erforscht, erklärt der Spaziergangswissenschaftler. „Es geht darum, sich völlig unvorbereitet den eigenen Stadtraum oder die umgebende Landschaft zu erschließen.“ Wissenschaftlich betrachtet sei das Spazierengehen das ziellose, vorurteilsfreie und absichtslose Herumschweifen, ohne genaue Vorstellung von dem Ziel zu haben.

Spazierengehen als Methode gibt es seit Langem schon in der Philosophie: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken“, schrieb einst Jean-Jacques Rousseau, der damit auf den Spuren von Aristoteles und Co. wandelte: Die sogenannten Peripatetiker trafen sich zu philosophischen Spaziergängen in einer Wandelhalle, griechisch „Peripatos“. Sie glaubten, dass das Denken erst so richtig beim Spazieren in Gang komme. Auch Promenadologe Schmitz kann das bestätigen: „Gehen hat einen unglaublichen Beschleunigungseffekt auf das Denken und das Mitteilen der Gedanken.“

Spazierengehen als Weg zur Erkenntnis – das haben bereits die Emmaus-Jünger in der Bibel erfahren. Jesus begleitet sie – Gedankenschritt für Gedankenschritt. Der Spaziergang befördert die Wahrnehmung der Jünger, bis ihnen am Ende die Augen geöffnet werden.

Augen öffnen will auch Spaziergangswissenschaftler Schmitz: Er rät Städteplanern und Architekten, den Schreibtisch zu verlassen und vor Beginn der Planung spazieren zu gehen. „Wenn wir spazieren gehen, erschließen wir uns unsere Umwelt, und das hat Einfluss darauf, wie wir die Welt gestalten.“ Dem liege ein kinematografischer Effekt zugrunde: „Wenn wir zu Hause sind, erzählen wir in Sequenzen, was wir gesehen haben“, erklärt Schmitz. Was wir wahrnehmen, sei nicht nur mit dem zurückgelegten Weg verknüpft, sondern werde erst durch den Spaziergang ermöglicht. Dieser berge daher einen Lerneffekt: Werden für gewöhnlich die Vorstellungen, die wir von der Welt haben, überwiegend von Bildern bestimmt, die Werbung und Medien vorgeben, könne sich ein Spaziergänger Schritt für Schritt davon befreien, indem er sich die Welt erschließt und vorurteilsfrei wahrnimmt, sagt Schmitz. „Je intensiver wir wahrnehmen, desto besser können wir die Welt gestalten.“

Dass Spazierengehen die Welt verändern kann, glaubt auch Silke Scheidel von der Evangelischen Arbeitsstelle für Bildung und Gesellschaft in Kaiserslautern. Mit der Frauenarbeit im Bistum Speyer organisiert sie „Faire Spaziergänge“ in Kaiserslautern und Speyer. „Wir schauen uns vor allem positive Beispiele an“, sagt Scheidel. Im Blick hat sie besonders die Arbeitsbedingungen und die Ökobilanz der Produkte, die in den Schaufenstern liegen. „Wir wollen Schritt für Schritt zu einer nachhaltigeren Gesellschaft kommen.“ Die Flaneure werden auf Läden aufmerksam gemacht, die sich für faire Arbeitsbedingungen und Nachhaltigkeit engagieren.

Ganz absichtslos ist der „Faire Spaziergang“ zwar nicht, wodurch er sich vom „idealen Spaziergang“, wie ihn der Promenadologe propagiert, unterscheidet. Dennoch trägt er zur Wiederbelebung des Spazierengehens bei. Ohnehin beobachtet Promenadologe Schmitz, dass der Spaziergang eine Renaissance erlebt. In Leipzig habe laut Schmitz ein Spaziergang mit Verantwortlichen der Stadt den Bau einer Umgehungsstraße verhindert – zugunsten eines Bachlaufs. Dies bestätigt die These „Spazieren schafft Schönheit“. Denn das Schöne kann nur geschützt werden, wenn es wahrgenommen wird. Und das geht am besten beim Spazierengehen.

Für einen gelungenen Spaziergang empfiehlt übrigens der Fachmann: „Einfach an Orte gehen, an denen man schon lange nicht mehr oder noch nie war.“ Auch privat geht Professor Schmitz gerne spazieren – mit Vorliebe am Sonntag. Stefan Mendling

Mit Bierbauch und Spazierstock

Schon 1841 hat Carl Spitzweg diese Tradition aufs Korn genommen: Das Bild „Der Sonntagsspaziergang“ zeigt eine flanierende Familie, der Vater mit Hut, Spazierstock und Bierbauch, die Frauen mit Hauben wie Scheuklappen. Es wird nicht kommuniziert, es wird spaziert. Die Familie absolviert ihre Sonntagspflicht mehr oder weniger vergnügt; Spitzweg hat hier feine Ironie eingearbeitet: Kleidung, Haltung, Anmutung sehen gänzlich ungeeignet aus, um damit querfeldein zu flanieren. Doch der entschlossene Blick des Vaters verrät: Der Sonntagspflicht muss Genüge getan werden! Nur einer genießt den Spaziergang: der wie zufällig rechts ins Bild gekommene Schmetterlingssammler. In ihm erfährt der Spaziergang dann doch noch die Wertschätzung, die ihm zusteht. stm

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