Lebensmut tanken im „Mittendrin“

Nachbarschaftstreff der Diakonie in Pirmasens will Menschen zusammenbringen und ihre Kräfte anregen

Angebot des Begegnungszentrums: Im „Erzählcafé“ treffen sich regelmäßig Bürger aus Pirmasens, um sich auszutauschen und sich gegenseitig zu helfen. Foto: Seebald

Deutsche Grammatik pauken: Migrantenfrauen treffen sich im „Mittendrin“ regelmäßig zu einem Sprachkurs. Foto: Seebald

Einladend: Das Begegnungszentrum befindet sich in der Pirmasenser Fußgängerzone. Foto: Seebald

Irgendwann drohte ihr, die Decke auf den Kopf zu fallen. „Die Kinder sind aus dem Haus, zu den deutschen Nachbarn habe ich keinen Kontakt“, erzählt die 55-jährige Iranerin. „Ich bin frustriert, habe keinen Job und fühle mich einsam“, fügt die adrette gelernte Friseuse an, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Doch jetzt huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: Erstmals sitzt sie im „Erzählcafé“ am Tisch mit anderen zusammen, hört zu, erzählt von ihrem Leben. Sie ist mittendrin und nicht mehr allein.

Immer donnerstagmorgens kommt die lockere Runde im neuen Begegnungszentrum „Mittendrin“ der pfälzischen Diakonie in Pirmasens zusammen. Jemand hat einen Kuchen auf den Tisch gestellt, es gibt kostenlosen Kaffee. An der Theke in dem lichtdurchfluteten Raum mit großem Glasfenster zur Fußgängerzone liegen Zeitungen aus. In einer Ecke stapelt sich Spielzeug für Kinder. In Nebenraum paukt eine ­Gruppe muslimischer Frauen deutsche Grammatik in einem Sprachkurs, den eine ehrenamtliche Helferin gibt.

Albert Gomille zeigt sich sehr zufrieden. „Es läuft supergut“, sagt der Sozialpädagoge und Leiter des bundesweit wohl einmaligen Gemeinwesenprojekts in der Hauptstraße 80: Seit einem knappen halben Jahr treffen sich dort in zentraler Lage von Montag bis Freitag zahlreiche Pirmasenser Bürger, um miteinander ins Gespräch zu kommen und sich auch gegenseitig in schwierigen Situationen zu helfen. Der Nachbarschaftstreff sei eine „Plattform“, wo die Einwohner eigene Freizeit- und Bildungsangebote ganz niederschwellig präsentieren könnten, erzählt Gomille, der auch das „Haus der Diakonie“ in Pirmasens leitet. Zudem bieten Diakoniemitarbeiter Sozial- und Lebensberatung an.

Das Herz der von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Stadt in der Westpfalz ist seit Jahren ein sozialer Brennpunkt. Dort leben viele bedürftige Familien, Langzeitarbeitslose, alte Menschen und Migranten. Etliche sind ohne Hoffnung und vereinsamt, manche sind auch ­psychisch krank und haben ihr Selbstwertgefühl verloren, erzählt Gomille. Ziel des zunächst auf zwei Jahre angelegten „Mittendrin“-Projekts sei es nun, die verschütteten Kräfte und Talente dieser Menschen wieder anzuregen und ihnen neuen Lebensmut zu geben. Das Land Rheinland-Pfalz gibt dafür einen Zuschuss von 140000 Euro, hinzu kommen Spenden.

Die Pirmasenser haben ihr neues Begegnungszentrum schnell angenommen und füllen es mit Leben, freut sich der Ideengeber Gomille. Die frühere Schulleiterin Angelika Zauner-Kröher gibt Flüchtlingsfrauen und ihren Kindern ehrenamtlich Sprachunterricht. Sigrun Mann, eine ehemalige Grundschullehrerin, organisiert das „Erzählcafé“. Eine Frauengruppe lädt einmal wöchentlich unter dem Motto „Ich tue mir Gutes!“ zu Freizeitaktivitäten ein. Ein Flüchtlingsberater der Diakonie veranstaltet regelmäßig einen „interkulturellen Austausch“, ein Gemeindepädagoge gibt Tipps für jene, die „länger ohne Arbeit“ leben müssen.

Auch ein „Trockenalkoholiker“ ist an diesem Morgen erstmals im „Mittendrin“ und will sich einbringen. Zehnmal, erzählt der 72-Jährige, sei er schon rückfällig geworden und wolle nun Betroffenen aufzeigen, dass es Wege aus der Sucht gebe. Ewald Mayer ist hingegen von Anfang an dabei und trägt gerne seine Gedichte vor. „Ich will einfach Leute kennenlernen“, sagt der Rentner, der gemeinsam mit den „Erzählcafé“-Besuchern schon Mohnstrudel nach dem Rezept seiner rumänischen Großmutter gebacken hat. Eine 84-jährige Frau aus Ostpreußen ist einfach gerne still unter Menschen und „hört lieber zu“, was diese zu erzählen haben.

Die junge Iranerin Anita, die seit drei Jahren in Pirmasens lebt, will die deutsche Sprache besser lernen. Eine Landsfrau von ihr kocht und backt für den Sprachkurs sowie für die Kinder in der protestantischen Luther-Kindertagesstätte, die nur wenige Schritte entfernt ist. Das Netz der gegenseitigen Hilfe sei in Pirmasens sehr dicht, lobt „Mittendrin“-Leiter Gomille, der von der Sozialwissenschaftsstudentin Hanna Neu unterstützt wird. Vor allem gehe es darum, die zahlreichen Angebote zu koordinieren, sagt der 55-Jährige. Vorbilder für das Nachbarschaftszentrum kenne er nicht: „Da sind wir wohl Pioniere.“

Dankbar ist auch die protestantische Kirchengemeinde, dass das „Mittendrin“ nur ein paar Schritte entfernt liegt, sagt Pfarrer Wolfdietrich Rasp. Der Nachbarschaftstreff bringe Menschen zusammen, die sonst kaum Kontakte zueinander hätten und diene dadurch auch dem sozialen Frieden in der Stadt. Der hohe Migrantenanteil und die breite Armut fördere jene nationalistischen Kräfte, „die den rechten Arm nicht unten halten können“, sagt der Pfarrer.

Auch für die Dekanin Waltraud Zimmermann-Geisert ist das „Mittendrin“ ein Schatz. Die Angebote trügen nicht nur zur Lebenszufriedenheit der Menschen bei, lobt sie. Auch die Luther-Kindertagesstätte, in der vor allem muslimische Migrantenkinder betreut werden, profitiere von dem Treffpunkt: Einige ihrer Mütter besuchten die Sprachkurse. Der Zuzugsstopp für Asylbewerber, den die Stadt Pirmasens verhängte, entlaste auch die Kirchengemeinde und ihre Kindertagesstätte, sagt die Dekanin. Bis zum Jahresende sollen dort zwei neue Gruppen entstehen.

Das erfolgreiche Pirmasenser Gemeinwesenprojekt könnte schon bald Nachahmer in der Landeskirche finden, informiert Diakoniepfarrer Albrecht Bähr. Nach und nach solle das Angebot von Nachbarschaftstreffs ausgebaut werden, die Kirchenbezirke Germersheim und Kaiserslautern etwa hätten bereits Interesse gezeigt. Die Gemeinwesendiakonie, bei der die Menschen vor Ort ihr Leben mitgestalteten, sei für das Flächenland Rheinland-Pfalz wichtig, sagte Bähr, der auch Sprecher der drei Diakonischen Werke im Land ist. Die Menschen könnten mehr Lebensqualität – und die Kirche und ihr Wohlfahrtsverband „als Kümmerer“ – ein Stück verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.

Die 55-jährige Friseurin aus dem Iran will wieder zum Erzählcafé kommen. Der Kontakt tue ihr gut, sagt die Frau, die ehrenamtlich als Dolmetscherin arbeitet. „Vielleicht“, sagt sie, „finde ich auch jemanden, der mir bei der Suche nach einem Job hilft.“ Alexander Lang

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