Kleppers letzte Stunden auf dem Weg in den Tod

„Schattenstunde“: Projekt des Speyerer Filmemachers Benjamin Martins – Wenig beachteter Aspekt des nationalsozialistischen Judenmords

Grausamer Druck: Jochen Klepper (Christoph Kaiser, links) trifft Adolf Eichmann (Dirk Waanders) in seinem Büro. Foto: Herbsthundfilme

„Wer hier Jude ist oder nicht, das entscheide ich“, blafft Adolf Eichmann an seinem Schreibtisch, hinter ihm an der Wand hängt eine große Hakenkreuzfahne. Der stocksteif vor ihm sitzende Mann zuckt und sinkt noch ein wenig mehr auf seinem Stuhl zusammen. Großaufnahme: Jochen Klepper reißt die Augen entsetzt auf, ihr Ausdruck ist leer. Der Ausreiseantrag für seine jüdische Ehefrau Johanna und deren Tochter Renate ist abgelehnt. In wenigen Stunden legen sich der evangelische Schriftsteller und Liederdichter und seine Lieben in der Berliner Wohnung zum Sterben auf den Boden, der Gashahn ist aufgedreht.

Drehszene für den Kinofilm „Schattenstunde“ über die letzten Stunden im Leben des bekannten Schriftstellers Klepper (1903 bis 1942) und seiner Familie. Wie viele andere christlich-jüdische Familien während der Hitler-Diktatur wurde sie von den Nationalsozialisten in den Suizid getrieben. Im ehemaligen Stadtarchiv im Speyerer Rathaus nimmt der Speyerer Filmemacher Benjamin Martins mit seinem Team eine Schlüsselszene des Films auf, der im Herbst 2020 in die Kinos kommen soll. Die beiden Hauptdarsteller Christoph Kaiser (Klepper) und Dirk Waanders (Eichmann) zeigen mit erschütternder Eindringlichkeit, wie ein Mensch unter ungeheurem psychischen Druck zusammenbricht und den Lebensmut verliert.

„Schattenstunde“ beruht auf den Tagebuchaufzeichnungen Kleppers, sagt der 34-jährige Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Martins. Mit seinem kammerspielartigen Film, der in Zusammenarbeit mit mehreren Stiftungen, Unternehmen und Vereinen entsteht, will er einen bisher wenig beachteten Aspekt des nationalsozialistischen Judenmords beleuchten. Tausende Menschen, die laut Nazijargon in „Mischehe“ lebten, hätten sich aus Verzweiflung und Angst vor Trennung selbst getötet. „An sie wird auf den Gedenktafeln der Konzentrationslager nicht erinnert“, beklagt Martins.

Zwei Jahre lang beschäftigte er sich mit der Lebensgeschichte Kleppers, dessen Lyrik in Gesangbücher und Liedsammlungen eingegangen ist. Lieder des im niederschlesischen Beuthen geborenen Schriftstellers wie „Er weckt mich alle Morgen“, „Die Nacht ist vorgedrungen“ und „Der du die Zeit in Händen hast“ werden bis heute in Kirchengemeinden gerne gesungen. Auch Klepper drohten die Nationalsozialisten mit Zwangsscheidung und der Deportation seiner kleinen Familie, weil er sich von seiner Frau nicht trennen wollte.

Fasziniert an der Rolle der Hauptfigur hat den Darsteller Christoph Kaiser aus Heidelberg besonders „die Konsequenz, mit der er seinen Weg gegangen ist“. Klepper, der nach seinem Studium der evangelischen Theologie auch als Journalist arbeitete, sei „kein Held“ gewesen, sagt der 56-Jährige in einer Pause am Filmset. Wie viele Deutsche habe Klepper zunächst versucht, sich mit dem Naziregime zu arrangieren.

In eine existenzielle Situation geriet Klepper jedoch nach dem Treffen mit SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, dem Organisator des Holocaust: Der Fluchtweg für ihn und seine Familie war versperrt. Als gläubiger Christ quälte ihn die Frage der Schuld vor Gott, wenn er selbst die Hand an sich legt. „Als Familienvater frage ich mich, wie ich selbst gehandelt hätte“, sagt Schauspieler Christoph Kaiser. Auch heute könne äußerer Druck Menschen zerstören, wenn etwa Asylsuchende abgeschoben würden.

Die Bildästhetik des Films gibt die Verzweiflung und wachsende innere Enge der Figuren wieder. Gefilmt wird im ungewöhnlichen Quadratformat, erzählt Regisseur Martins, dessen Team 42 Techniker, 15 Schauspieler und 43 Komparsen umfasst. Nach seiner Kinolaufzeit soll der Film seiner Firma „Herbsthundfilme“ auch Jugendlichen in Schulen, Vereinen und Kirchengemeinden gezeigt werden. Der Pro­jekt­etat beläuft sich auf 100000 Euro, Sponsoren für die Filmwerbung seien willkommen, sagt der Filmemacher. Das Leid der jüdisch-christlichen Familien, die gemeinsam in den Tod gingen, dürfe nicht vergessen werden: „Man muss den vergessenen Menschen ihren Namen zurückgeben.“ Alexander Lang

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