Kein Aufschrei gegen Wettrüsten

Auf die wachsende atomare Bedrohung in der Welt reagieren die Kirchen anders als vor 40 Jahren

Die erste große Friedensdemonstration: 300000 Menschen protestierten am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss. Foto: epd

Keine Raketen aus Ost und West: Auch Bundeswehrsoldaten demonstrierten 1983 beim bundesweiten Aktionstag in Bonn. Foto: epd

Ein neues nukleares Wettrüsten könnte drohen, warnte der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Renke Brahms, im vergangenen Oktober. Kurz zuvor hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, er wolle wieder Mittelstreckenraketen bauen lassen, wenn Russland sich nicht an den INF-Vertrag von 1987 halte (INF für „intermediate nuclear forces“ – nukleare Mittelstreckenwaffen). Die USA setzten der russischen Regierung Anfang Dezember ein Ultimatum von 60 Tagen, um die Zerstörung von SSC-8-Marschflugkörpern zuzusagen. Vor wenigen Tagen forderte der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Moskau erneut zum Dialog auf.

Außer Brahms’ Warnung gab es keine offizielle Reaktion der Kirchen. Vor 40 Jahren hingegen standen Kirchenleute beim Protest gegen den nuklearen Schrecken in den vorderen Reihen. Friedenskreise gründeten sich in den Kirchengemeinden und vernetzten sich, und zwar in West- wie in Ostdeutschland. In der DDR lavierten die Kirchenleitungen zwar, um es sich mit der SED nicht zu verscherzen, aber ohne die Bereitschaft von Pfarrern, Türen zu öffnen, hätte es dort keine Friedensbewegung gegeben.

Der INF-Vertrag, eine der wichtigsten Wegmarken zur Beendigung des Kalten Kriegs, beendete eine Zeit der Angst. Der Nato-Doppelbeschluss von 1979 und die anschließende Nachrüstung hatte die Gefahr eines Atomkriegs wieder wachsen lassen, nachdem in den Jahren davor Entspannung zwischen den beiden Blöcken das politische Klima bestimmt hatte. Gegen die SS-20-Raketen der Sowjetunion wollte der Westen seine Pershing-II- und Tomahawk-Geschosse in Stellung bringen.

Nach den Worten des evangelischen Militärbischofs Sigurd Rink könnte die weitgehende Funkstille heute daran liegen, dass inhaltliche Kompetenz fehlt. „Bei militärethischen Fragen sind die Kirchen generell zurückhaltend“, sagt er. Anders als in der Medizinethik, wo sie viel breiter aufgestellt sei, gebe es in der Kirche deutschlandweit „vielleicht 60 Personen, die sich mit diesen Fragen vertiefter auseinandersetzen“.

Einfach nur für den Frieden zu sein, sei leicht, gibt Rink zu bedenken: „Bin ich doch auch.“ Es gebe beim Thema Militär aber eben auch Graubereiche. In anderen Ländern, etwa den USA, sei die Vorstellung verbreiteter, dass es neben einer Friedens- auch eine Militär­ethik gebe, und dass zwischen beiden ein Unterschied existiert. Der Pfarrer und DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann hat einen anderen Erklärungsansatz für das aktuelle Schweigen der Kirchen. „Es war eine völlig andere Zeit damals“, sagt er. „Es war Kalter Krieg.“ Die Menschen hätten sich – anders als heute – unmittelbar bedroht gefühlt. „Wir wussten, wir müssen etwas tun, um uns nicht an der Zukunft unserer Kinder schuldig zu machen“, erinnert sich der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete.

In der DDR hat, folgt man Eppelmanns Worten, ausgerechnet die Staatsmacht der Friedensbewegung einen erheblichen Schub verliehen. Honecker habe sich zunächst mit den Sorgen der Menschen solidarisiert und gegen die Pershing und die Marschflugkörper der US-Streitkräfte gewettert. „Die SS-20 hat er gar nicht erwähnt“, sagt Eppelmann. „Die muss er für Friedenstauben gehalten haben.“ Vielen Menschen in Ostdeutschland sei aber glasklar gewesen, dass Honecker etwas sehr Wichtiges vergessen hatte. „Wir begriffen, dass die Menschen im Westen auch für uns mitkämpften.“

Auch Sabine Müller-Langsdorf, Referentin für Friedensarbeit beim Zentrum Oekumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, geht davon aus, dass sich das Bedrohungsgefühl verändert habe: „Die Leute empfinden heute eher, dass ihre Zukunft durch die Klimaerwärmung gefährdet ist.“ Protestaktionen wie die am Hambacher Forst hätten dies deutlich gezeigt.

Dennoch sei die nukleare Bedrohung aus dem öffentlichen Bewusstsein nicht ganz verschwunden. „Ich kenne niemanden, der Atomwaffen nicht als Bedrohung sieht“, sagt die Friedenspfarrerin. Es gebe auch weiterhin Protest gegen sie. „Es sind natürlich nicht mehr die 500000 im Bonner Hofgarten, die Protestformen haben sich geändert.“ Heute schrieben die Menschen eher Briefe an Abgeordnete oder sie schlössen sich Online-Petitionen an.

Für dieses Jahr erwartet Militärbischof Rink, dass die Themen Frieden und Militär bedeutender werden: „Im November 2019 tagt die EKD-Synode zum Thema Friedensethik als Schwerpunkt. Im Hinblick darauf laufen viele Vorhaben, aber das sind eher Grundlagenfragen.“ Die Debatte darüber sei noch sehr akademisch. Ob für Europa nun ein neues Wettrüsten bevorsteht, ist sich Rink nicht sicher. „Ich glaube, dass wir da einen sehr eurozentrischen Blick haben“, sagt er. „Im Fokus der Großmachtinteressen steht heu­te der ostasiatische Raum.“ Nils Sandrisser

Der Weg zum Raketenverbot

30. August 1976: Die ersten Raketen des Typs RSD-10 Pioner (Nato-Codename SS-20) sind in der UdSSR einsatzbereit. Mit ihnen will die Sowjetarmee einerseits alte Mittelstreckenraketen ersetzen, aber auch ihr nukleares Potenzial ausweiten, denn die neuen Raketen tragen gleich drei atomare Sprengköpfe.

12. Dezember 1979: Die Nato verkündet ihren „Doppelbeschluss“. Sie will einerseits mit den Sowjets Gespräche über den Abbau von Mittelstreckenraketen führen, andererseits Atomwaffen stationieren, wenn diese Gespräche scheitern sollten.

10. Oktober 1981: Demonstration im Bonner Hofgarten gegen die Nachrüstung mit 300000 Teilnehmern.

25. Januar 1982: Die „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht den „Berliner Appell“ der DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann und Robert Havemann, der zur Abrüstung in Ost und West auffordert. Die DDR-Behörden reagieren hart: Havemann befand sich schon zuvor im Hausarrest, Eppelmann wird mitten aus einer Konfirmandenstunde heraus festgenommen.

10. Juni 1982: Demonstration im Bonner Hofgarten mit rund 500000 Menschen. Zu den Rednern gehört der DDR-Pfarrer Heino Falcke.

22. Oktober 1983: An einem bundesweiten Aktionstag nehmen rund eine Million Menschen teil. Hunderttausende bilden eine 108 Kilometer lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Auf der Bonner Hofgartenwiese kommen 200000 Menschen zusammen.

22. November 1983: Nach ergeb­nislosen Abrüstungsverhandlungen stimmt der Bundestag der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen des Typs Pershing II und landgestützten Tomahawk-Marschflugkörpern zu.

8. Dezember 1987: Die Staatschefs Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnen in Washington den INF-Vertrag. Er verbietet alle landgestützten atomaren Flugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. epd

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