„Ich sah meine Eltern erbleichen, zu Tode erschrecken“

Vor 80 Jahren fand die erste Massendeportation deutscher Juden nach Gurs statt • von Alexander Lang

Eine kommunale Arbeitsgemeinschaft aus dem Südwesten kümmert sich um den Deportiertenfriedhof in Gurs mit ­seinen mehr als 1000 Gräbern. Foto: Bezirksverband Pfalz

Margot Wicki-Schwarzschild überlebte als Kind mit ihrer Schwester und Mutter die Deportation nach Gurs, ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet. Foto: Margot Wicki-Schwarzschild

Ein alter jüdischer Mann wird in Ludwigshafen am 22. Oktober 1940 von Polizisten zum Abtransport nach Gurs gebracht. Foto: Stadtarchiv Ludwigshafen

Margot Wicki-Schwarzschild bekommt bis heute die Bilder nicht aus dem Kopf. „Stiefelgetrampel und lautes Klopfen an der Wohnungstür, ich sah meine Eltern erbleichen, zu Tode erschrecken.“ Die 88-jährige gebürtige Kaiserslautererin, die heute in der Schweiz lebt, erinnert sich noch genau, was in den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940 geschah. „In der Tür standen Gestapo-Leute in Zivil.“ Eine Stunde Zeit hatte die Familie zum Packen. Dann wurde sie mit vielen anderen verängstigten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf den Güterbahnhof der westpfälzischen Stadt getrieben. Von dort ging der Zug ab in Richtung Westen.

80 Jahre ist es nun her, dass Margot Wicki-Schwarzschild als kleines Mädchen gemeinsam mit ihren Eltern, der Großmutter und ihrer Schwester von den Nationalsozialisten in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert wurde – zusammen mit mehr als 6500 anderen Juden aus der Pfalz, Baden und dem Gebiet des heutigen Saarlands. Die von den NS-Gauleitern für die Saarpfalz und Baden, Joseph Bürckel und Robert Wagner, akribisch geplante Aktion war die erste Massendeportation von Juden aus dem Deutschen Reich überhaupt. Die beiden glühenden Nationalsozialisten seien vom Ehrgeiz beseelt gewesen, der Reichsführung in Berlin ihre Gaue als erste „judenfrei“ zu melden, sagt der Kaiserslauterer Historiker und pfälzische Landessynodale Roland Paul. Ideengeber der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion war ganz offenbar der pfälzische NSDAP-Gauleiter Bürckel, ergänzt Walter Rummel, der Leiter des Landesarchivs Speyer. Schon seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war die jüdische Bevölkerung im ganzen Reich gezielt verfolgt und gedemütigt worden, ihre wirtschaftliche Existenz wurde vernichtet. Viele flohen vor den Nationalsozialisten in andere europäische Länder oder emigrierten nach Übersee, vor allem nach Amerika.

Die Festnahme und Deportation aller „transportfähigen Volljuden“ aus dem Südwesten in den von den Deutschen unbesetzten Teil Frankreichs bildete im Oktober 1940 den bisherigen Höhepunkt der Judenverfolgung durch das NS-Regime. Zugleich markierte die verbrecherische Aktion den späteren Weg der europäischen Juden in den Holocaust. Etwa zwei Drittel der nach Gurs Deportierten wurden zwischen 1942 bis 1944 von den Nazis in die Vernichtungslager im Osten transportiert und dort ermordet. Viele starben auch in dem Barackenlager Gurs und anderen Internierungslagern auf französischem Boden aufgrund der unmenschlichen Unterbringung an Hunger, Krankheiten oder der Kälte.

Unter dem Druck der Nationalsozialisten wies das zuvor von der Aktion nicht informierte französische Vichy-Regime die Deportierten in das Lager ein, erzählt der Historiker Paul, ein Experte der jüdischen Geschichte der Pfalz. Zuvor hatten die Gauleiter Bürckel und Wagner bereits aus dem Elsass und Lothringen mehr als 23000 der NS-Regierung missliebige Franzosen – vor allem Juden – „ausgewiesen“, wie es in einem Merkblatt für bei der Deportation eingesetzte Beamte beschönigend heißt. Das Lager Gurs war 1939 von der französischen Regierung ursprünglich für Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs angelegt worden, interniert wurden dort auch deutsche Emigranten wie Sozialdemokraten und Kommunisten.

Bei der groß angelegten Aktion trieben Nazi-Schergen die ihres Besitzes beraubten Juden in den Städten und Gemeinden im ganzen Südwesten zusammen, brachten sie zu Sammelplätzen. Es gibt davon nur ein einziges eineinhalbminütiges Filmdokument aus der badischen Stadt Bruchsal, das auch auf Youtube verfügbar ist. Es zeigt, wie Gruppen vor allem älterer Menschen mit Koffern in der Hand an teilnahmslosen uniformierten Bewachern vorüberziehen.

Auch Margot Wicki-Schwarzschild, die häufig als eine der letzten Zeitzeuginnen vor allem an Schulen über ihre Erinnerungen spricht, hat bei ihrem Abtransport den dumpfen Judenhass ihrer Mitmenschen erlebt. Die Hitler-Jugend ihrer Heimatstadt habe Spalier gestanden, sie verhöhnt, beschimpft und bespuckt, erzählt die ehemalige Dolmetscherin. Von Ludwigshafen aus wurden mehr als 800 Pfälzer Juden mit zwei Zügen nach Gurs an den Rand der Pyrenäen verschleppt, mehr als 130 Juden aus dem heutigen Saarland mussten in Forbach zusteigen. Aus Baden fuhren sieben Züge mit etwa 5700 Deportierten ab. Darunter befanden sich auch etwa 600 pfälzische Juden, die nach den Novemberpogromen von 1938 in badische Städte gezogen waren.

Derzeit arbeitet das dortige Generallandesarchiv an einem Internetportal, das die Daten aller nach Gurs deportierten Juden erfassen soll. Im kommenden Jahr soll ein Großteil der Informationen über Herkunft und Deportationswege abrufbar sein, sagte Projektleiter Martin Stingl. Eine kommunale Arbeitsgemeinschaft leistet seit vielen Jahren intensive Gedenkarbeit im Südwesten und unterhält und pflegt den Deportiertenfriedhof mit mehr als 1000 Gräbern in Gurs. Anlässlich des 80. Jahrestags der Deportation gibt es zahlreiche Gedenkveranstaltungen im ganzen Südwesten. Das Pfalztheater in Kaiserslautern zeigt zudem ein Stück über das Leben des Gauleiters Bürckel – der noch lange nach Kriegsende als „Erfinder“ der Weinstraße gewürdigt wurde.

Drei Tage und vier Nächte lang waren die Züge nach Gurs unterwegs, viele vor allem ältere Frauen und Männer starben wegen der Strapazen bereits auf dem Transport oder kurz nach der Ankunft. Katastrophal waren in dem mit Stacheldraht eingezäunten Lager die hygienischen Zustände in den 380 Holzbaracken. Die Versorgung mit Essen und Medikamenten war mangelhaft. Hunger, Läuse, Ratten und der allgegenwärtige Schlamm im sumpfigen Gelände gehörten zum Alltag, erzählt Margot Wicki-Schwarzschild, die gemeinsam mit ihrer Schwester Hannelore ein Buch über ihre Erinnerungen veröffentlicht hat. Einigen Internierten gelang es, das Lager zu verlassen und auszuwandern. Unterstützung bekamen die geschundenen Menschen von Hilfsorganisationen aus der Schweiz, den USA und Frankreich.

Mithilfe einer Schwester des Schweizerischen Roten Kreuzes konnten sich auch Margot Wicki-Schwarzschild, ihre Schwester und ihre katholische Mutter retten. 1941 war die Familie von Gurs in das Lager in Rivesaltes verlegt worden, im Sommer 1942 drohte dann die Deportation nach Auschwitz. Die Mutter zeigte ein Kommunionsbild von sich vor – die Papiere hatten die Schwarzschilds in der Hektik ihrer Festnahme in der Heimat vergessen. „Das rettete uns das Leben“, sagt Margot Wicki-Schwarzschild.

Der Vater jedoch wurde am Tag darauf nach Auschwitz deportiert und ermordet. „Nie werde ich vergessen, wie wir von ihm Abschied nahmen und ahnten, dass wir uns wohl nie wiedersehen werden.“ Den Mördern ihres Vaters und ihren Peinigern kann sie nicht vergeben, „doch mit meinem Leben habe ich mich versöhnt“, sagt sie. 1946 kehrte Margot ­Wicki-Schwarzschild mit Mutter und Schwester nach Kaiserslautern zurück und zog später in die Schweiz, wo sie arbeitete und heiratete.

In ihrer ehemaligen Heimatstadt wird die Zeitzeugin am 20. Oktober um 19 Uhr im Pfalztheater Kaiserslautern sprechen. Im Publikum werden auch diesmal sicher viele junge Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen, so hofft sie. „Viele junge Leute interessieren sich dafür, was damals passiert ist.“ Auch wenn es wehtut, will Margot Wicki-Schwarzschild angesichts des wachsenden Rassismus und Antisemitismus einmal mehr davon erzählen, was den Juden aus dem deutschen Südwesten vor 80 Jahren widerfahren ist. „Wir dürfen nicht vergessen“, lautet ihr Appell.

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