„Hilf mir, es selbst zu tun!“

Die Reformpädagogin Maria Montessori wäre am 31. August 150 Jahre alt geworden • von Stefan Mendling

Bewegung statt Stillsitzen: Der rosa Turm ist Sinnbild für eine Pädagogik, bei der die Kinder aus eigenem Antrieb die Welt „begreifen“. Foto: KB

Die italienische Ärztin Maria Montessori entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Methode mit dem Leitsatz „Hilf mir, es selbst zu tun!“ (hier 1950 beim Erhalt der ­Ehrendoktorwürde der Universität Amsterdam). Foto: wiki

Bettina Brückmann gründete vor 20 Jahren mit anderen eine Montessori-Schule in Landau, die sie bis zu diesem Sommer leitete. Foto: Mendling

Die Lehrerin zupft am Teppich, sammelt einen Papierschnipsel auf, der sich auf den Teppich verirrt hat. Kleine Lampen verbreiten im Klassenraum ein angenehmes Licht, die Lernmaterialien liegen akkurat an ihrem Platz in offenen Regalen. Der Raum ist bis ins Detail schön, einladend, freundlich. Es wirkt gemütlich, so, als ob jemand Besuch erwartet. Es ist ein Montag in einer Montessori-Schule.

Noch ist die Lehrerin alleine. Es gibt kein Pult, keinen Lehrerschreibtisch. Sie sitzt auf einem Stuhl, schaut zur Tür. Und der Besuch kommt – in Hausschuhen. Die Lehrerin empfängt das erste Kind, das leise die Tür öffnet und hinter sich wieder schließt: „Guten Morgen, Luise! Schön, dass du da bist.“ Ihre Stimme klingt ruhig und gut gelaunt. Das nächste Kind betritt den Raum und wird ebenso freundlich begrüßt. Kind für Kind trifft ein, rollt einen kleinen Teppich auf seinem Tisch aus und holt sich Material, mit dem es arbeiten will. „Freie Arbeit“ steht zu Beginn jeden Schultags auf dem Stundenplan. Jedes Kind darf selbst aus der Fülle der Materialien auswählen. Alles steht gut erreichbar an seinem Platz im Regal.

Ein Kind baut einen Turm aus rosa Holzquadern. Einige schreiben Geschichten, die sie mit selbstgemalten Bildern illustrieren. Ein Kind befühlt mit seinen Fingern Holztafeln mit Buchstaben aus Sandpapier. Nebenan füllt sich ein Miniaturbauernhof mit Leben: Pferde, Kühe, Enten werden zur entsprechenden Wortkarte gestellt. Zwei Kinder breiten eine lange, goldene Kette aus, die „Tausenderkette“. Danach legen sie Pfeile mit Zahlen daneben. Einige Kinder schauen ihnen bewundernd zu.

Alle, die hier sind, sind zwischen sechs und zehn Jahre alt, erste bis vierte Lernstufe gemischt. Auf dem runden Teppich in der Mitte spielen Kinder scheinbar mit Bauklötzen: Sie bauen einen Torbogen, am Ende entfernen sie vorsichtig die Stütze – die Konstruktion ist geglückt, der Bogen hält, die Kinder wirken glücklich. Die „Römische Brücke“ ist ebenso wie der rosa Turm ein Sinnbild für die Pädagogik von Maria Montessori: Bausteine, die aufeinander aufbauen. Der Baumeister ist das Kind. Die Stütze unter dem Bogen steht für die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer: Sie sind notwendig, bis sich die Brücke von selber trägt. Dann wird die Stütze überflüssig – das ist die Hauptaufgabe des Lehrenden: sich selbst überflüssig machen – denn die eigentlichen Lehrer sind die Kinder selbst; das Kind ist, wie Maria Montessori sagt, der „Erbauer seiner eigenen Intelligenz“. Der Lehrende schafft lediglich die Bedingungen, das geeignete Umfeld, damit sich das Kind selbst bildet. Dazu gehören die Reduktion auf das Wesentliche, eine vorbereitete Umgebung und eine gute Beobachtungsgabe – eine anspruchsvolle Aufgabe – und das Lebenswerk einer Frau, die mit ihren revolutionären Ideen ihrer Zeit voraus war.

Maria Montessori, die als erste Frau in Italien Medizin studierte, arbeitet von 1897 bis 1898 als Assistenzärztin an der psychiatrischen Klinik in Rom. Sie ist entsetzt, wie dort geistig behinderte Kinder wie in einem Gefängnis verwahrt werden. Die Wärterin vergleicht die Kinder sogar mit Tieren, die sich die Brotkrümel vom Boden zusammenraffen. Die junge Ärztin beobachtet sie jedoch genau und entdeckt: Sie untersuchen die Brotkrümel, spielen damit, vertiefen sich – die Krümel sind das Einzige, was sie haben.

Montessori bringt ihnen verschiedene Gegenstände mit. Sie entdeckt in den Kindern das Bedürfnis, die Welt zu erforschen, natürliche Neugier, angeborene Lernfreude. Ihr wird klar: Die geistige Beeinträchtigung ist kein medizinisches Problem, sondern ein pädagogisches. Sie sucht nach Lösungen und stößt dabei auf Arbeiten von Jean Itard (1774 bis 1838) und seinem Schüler Edouard Séguin (1812 bis 1880). Bereits 100 Jahre zuvor haben die beiden herausgefunden, dass geeignetes Sinnesmaterial geistig beeinträchtigte Kinder zum Lernen anregt. Diese in Vergessenheit geratene Forschung greift Maria Montessori auf und entwickelt so den Grundsatz ihrer Pädagogik: „Erst die Erziehung der Sinne, dann die Erziehung des Verstands.“

Sie schreibt sich erneut an der Universität ein, studiert Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie und gründet 1907 die „Casa dei Bambini“, ein Kinderhaus für Kinder in einem römischen Elendsviertel. Dort beobachtet sie, wie ein dreijähriges Mädchen sich mit den „Einsteckzylindern“ beschäftigt, Zylinder unterschiedlicher Größe, die in den jeweils passenden Hohlraum gesteckt werden. Sie ist dabei so konzentriert, dass sie sich durch nichts ablenken lässt. Maria Montessori bittet die anderen Kinder, singend durch den Raum zu marschieren. Das Mädchen bleibt konzentriert. Sogar, als Maria Montessori ihren Stuhl anhebt und auf einen Tisch stellt, arbeitet sie völlig unbeeindruckt mit den Zylindern auf ihrem Schoß weiter. Über 40-mal wiederholt sie die Übung – bis sie wie aus einem Traum erwacht und glücklich lächelt. Kein Lehrer vermag es, die Aufmerksamkeit eines Kindes so an sich zu fesseln. Dieses Phänomen nennt Montessori „Polarisation der Aufmerksamkeit“ – es wird zum Dreh- und Angelpunkt ihrer gesamten Pädagogik.

Auch Bettina Brückmann, ehemalige Schulleiterin der Montessori-Schule Landau, hat regelmäßig beobachtet, wie Kinder sich hoch konzentriert einer Aufgabe widmen, unbeirrbar – und danach tief zufrieden und ausgeglichen sind. „Das sind die kostbaren Momente“, bei denen der Lehrer nicht stören dürfe. „Maria Montessori nennt das den absorbierenden Geist des Kindes“, erklärt sie. Jedoch entscheide allein das Kind, wann und mit welchem Material dies geschieht. Diese Erkenntnis sei ihr ganz besonders wichtig: „Die Kinder geben den Weg vor!“ Rückblickend auf ihr Berufsleben als Pädagogin sagt sie: „Die wichtigste Aufgabe als Lehrer ist es, sich im Hintergrund zu halten, zu beobachten, ihre Stimmung wahrzunehmen, Blockaden zu erkennen und vor allem, den Kindern zu vertrauen.“

Gerade das Vertrauen habe sie in der Zeit vor den Ferien bei vielen Eltern vermisst. Als die Schulen durch Corona geschlossen waren, hätten sich einige um den Lernfortschritt ihrer Kinder Sorgen gemacht – aus Angst, die Kinder würden etwas verpassen. „Ich habe es schon erlebt, dass ein Kind drei Monate nur zuschaut und nichts macht – das musste ich aushalten.“ Und selbst wenn ein Kind ein Jahr scheinbar nichts macht, versäume es dennoch nichts. Brückmann ist überzeugt: Kinder holen sich, was sie brauchen – das, was gerade für sie dran ist. „Kinder haben sensible Phasen“, erläutert sie. Dann geschehe eine „Explosion, bei der die Kinder in erstaunlicher Geschwindigkeit und Intensität lernen. Aber die Kinder geben den Ton an.“ Dadurch, dass Eltern ihre Kinder zu Hause beschult hätten, wäre viel Selbstständigkeit verloren gegangen. Das habe sie in den letzten Wochen schmerzlich beobachtet. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn du dran ziehst“, zitiert Brückmann ein afrikanisches Sprichwort.

Zurück im Klassenzimmer: Auf einem der Tische liegt ein kleiner Teppich, darauf ein Würfel aus unterschiedlich großen, viereckigen Prismen. Jede Seite jedes Prismas ist farblich markiert. Der Trinomische Würfel funktioniert wie ein dreidimensionales Puzzle. Lehrerin und Schülerin sitzen nebeneinander – vor ihnen der Würfel. Die Lehrerin gibt eine „Einführung“. Die Anleitung geschieht jedoch ohne Worte – allein durch Zeigen, Blicke und Gesten. Die Lehrerin nimmt ein Prisma, streicht mit ihrem Finger über eine Seite, schaut die Schülerin an, streicht an der Stelle, an die sie das Prisma in den Würfel einfügen will, schaut wieder zur Schülerin, wartet ihre Reaktion ab. Diese ahmt Schritt für Schritt den Bewegungsablauf nach, streicht über die Farbfläche des Würfels – und schaut die Lehrerin fragend an. Sie antwortet nonverbal, körpersprachlich, ihre Augen sagen: Ich freue mich, du kannst es! Die Lehrerin ist während der Einführung ganz bei diesem einen Kind, schenkt ihm ungeteilte Aufmerksamkeit – und lenkt damit auch die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Wesentliche, auf das Material, das vor ihm liegt. Das Kind setzt danach den Würfel selbstständig zusammen – mit dem eigenen Anspruch, es perfekt zu machen.

Das Material ist von Anfang an so gestaltet, dass das Kind selbst merkt, ob es die Aufgabe richtig abgeschlossen hat. Die Fehlerkontrolle übernimmt allein das Kind. Auch das ist Montessori überaus wichtig: Es gibt keine Motivation über Lob oder Strafe. Es wird nicht durch den Erwachsenen korrigiert, es überprüft selbst. Und hat es eine Aufgabe erfolgreich beendet, belohnt sich das Kind dadurch selbst. Es ist zufrieden und glücklich. Maria Montessori beobachtet, dass sich das auch auf das Miteinander auswirkt. Kinder, die ihren Bedürfnissen folgen dürfen und durch ihre selbstständige Arbeit Befriedigung erlangen, sind auch friedlich und freundlich zueinander. „Es ist eine Freude, zu sehen mit welcher Begeisterung das Kind arbeitet, wenn ihm Freiheit dazu gegeben wird und wenn ihm geeignete Gegenstände bereitgestellt werden, mit denen es seinen Wunsch nach Aktivität erfüllen kann“, schreibt Maria Montessori, die weiß, wie schwierig es für Eltern und Pädagogen sein kann, sich im Hintergrund zu halten: „Der Erwachsene darf sich nicht einmischen, darf nicht anstelle des Kindes handeln. Gib ihm die Mittel, und lass es handeln. Seine Freiheit besteht daraus.“ Wird diese Freiheit respektiert, entwickle sich ein starker Charakter, das Kind sei friedliebend und glücklich. Was bei ihr zwischen den Zeilen steht, ist: Die Erwachsenen müssen sich ändern, ihre Einstellung, ihren Blick auf die Kinder, ihr Bestreben, das Kind formen, erziehen, ihm etwas beibringen zu wollen. Sie fordert, die Kinder in ihrer Persönlichkeit ernst zu nehmen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und mit echtem Respekt, nicht nur „moralisch oder theoretisch“, sondern als „soziale, menschliche Persönlichkeiten erster Ordnung“.

„Mein Platz ist am Rand“, sagt Bettina Brückmann mit Überzeugung. Für sie gehöre die Zurückhaltung des Lehrenden zum Respekt, wie ihn Montessori einfordert. Etwas von diesem Respekt, den Maria Montessori gegenüber Kindern hatte, spiegelt sich bis heute in den Kindern wider: Bettina Brückmann spürt etwas davon, als sie mit ihren Grundschülern das Geburtshaus von Maria Montessori in Chiaravalle bei Ancona besucht. Als die Kinder im Geburtszimmer von Maria Montessori stehen, haben sie Tränen in den Augen. Der Raum ist erfüllt von Dankbarkeit und Respekt. „Das werde ich nie vergessen!“

Der Dokumentarfilm „Das Prinzip Montessori“ bietet Einblicke in das pädagogische Konzept und zeigt Phänomene, die Montessori in ihren Schriften beschreibt. www.das-prinzip-montessori.de

„Gott, der keine Hände hat“

Die „Kosmischen Erzählungen“ Maria Montessoris sind zentraler Bestandteil ihres Konzepts von „Kosmischer Erziehung“ in ihrer Pädagogik.

Naturwissenschaftliche Zusammenhänge werden in erzählender Weise mit philosophischen Fragen verknüpft und sollen zum Experimentieren anregen: Wie kann Gott, den wir nicht sehen können, der keinen Körper hat und damit keine Hände, die Welt erschaffen haben? Montessori erzählt, wie alles in der Welt Gottes Willen gehorcht – alles sei Teil seines kosmischen Plans: die Gesetze der Physik, Chemie, Biologie; auch der Mensch sei Teil dieses Plans, er habe allerdings eine Sonderstellung in der Schöpfung. Montessori, selbst gläubige Katholikin, lässt sich immer wieder von dem Gedanken des Kosmos als Einheit des Lebens, der Welt, des Einzelnen und Gott leiten. Die Kraft, die in den Kindern „Wunder“ vollbringt, ist für sie gleichbedeutend mit dem Geist Gottes. stm

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