Fantasie an der langen Leine

Die Drachenszene in Deutschland lebt • von Florian Riesterer

Unendliche Möglichkeiten: Luftgefüllte, stablose Drachen von Bernhard Dingwerth am Strand von Berck sur Mer in Frankreich. Foto: pv

Rokkaku-Kämpfer auf dem Albdrachenfest Gerstetten. Foto: Riesterer

Facette-Drachen auf dem Albdrachenfest Gerstetten. Foto: Riesterer

Und dann bevölkern sie plötzlich den Himmel über der Schwäbischen Alb: unzählige schwarze Fledermäuse mit großen Flügeln und spitzen Ohren, am hellichten Tag. Zugegeben, die Leinen, mit denen die Tiere mit ihren Besitzern am Boden verbunden sind, verraten beim Näherkommen, dass es sich um Drachen handeln muss – alleine der Größe wegen. Aber dem Schwarm aus einigen hundert Metern Entfernung zuzusehen, hinterlässt Eindruck.

Herbstmonate sind Drachenmonate – zumindest wenn man nach den Drachenfestivals geht, die Vereine quer durch Deutschland anbieten. Dazu kommen unzählige Festivals im Ausland, unter anderem auf der dänischen Insel Fanø zum wahrscheinlich größten diesartigen Fest der Welt. Auf dem Albdrachenfest bei Gerstetten nutzen Eltern mit Kindern die Gelegenheit, ohne Angst vor in Bäumen verhedderten Flugobjekten Drachen steigen zu lassen – eine Herausforderung – schließlich geht kaum Wind. Andere schauen bewundernd und etwas neidisch jenen Drachen zu, die trotz ihrer Größe scheinbar mühelos in der Luft stehen, während ihre Besitzer entspannt auf Faltstühlen sitzen oder auf der Wiese, die Spule locker in der Hand.

Michael Kownatzki hält so den „Demon-Man“ im Zaum: Ein langer, schwarz-roter Körper, den ein grinsendes, vielfarbiges Gesicht mit spitzen Hörnern krönt. Er habe den Drachen nach einem Design des US-Amerikaners George Peters nachgebaut, erklärt der Rentner aus Freiburg nicht ohne Stolz. Was bei mehr als 14 Metern Länge und 200 Einzelteilen rund 200 Stunden Arbeit bedeutet, vom Modell aus Papier bis zum fertigen Drachen. Kownatzki, das verrät das Wohnmobil hinter ihm, ist einer jener Drachenliebhaber, die regelmäßig auf Festivals fahren – und immer wieder neue Eigenkreationen im Gepäck haben.

Schon als kleiner Junge sei er begeistert gewesen von Drachen, zwischenzeitlich habe er sich, auch weil er selbst keine Kinder habe, mit dem Drachensteigen eher zurückgehalten, erzählt er. Doch seit einigen Jahren ist er wieder voll eingetaucht in das Hobby, mehr als jemals zuvor, so scheint es. Aus dem Stand erläutert Kownatzki den Bernoulli-Effekt, der Drachen den Auftrieb gibt, preist die Vorzüge verschiedener Drachen an, Material und Flugeigenschaften. Mit wenigen Handgriffen hat er seinen Riesendrachen zerlegt, zaubert aus dem Kofferraum des Wohnmobils, aus dem unzählige Exemplare zu quellen scheinen, ein auf den ersten Blick unscheinbares, gelbes Modell. Der Nullwinddrachen des Schweizers Thomas Horvath stehe auch ganz ohne Wind am Himmel, erzählt Kownatzki und liefert gleich den Beweis, indem er ihn einen Meter über dem Kopf fliegen lässt, nur mit kurzem Zupfen an der Schnur in Bewegung hält. „In Freiburg habe ich den in einer Messehalle fliegen lassen.“

Mehr Wind brauchen die riesenhaften Cassagne-Räder, die deshalb nur kurz in der Luft stehen, gefolgt von eleganten Edo-Drachen. „Wir haben Stammgäste, die seit Jahren zu uns kommen“, sagt Ralph Schneider, Vorsitzender des Vereins Albflyer, der regelmäßig Drachenbauworkshops anbietet. Mit gerade einmal vier Erwachsenen und zwei Kindern könne man das Programm alleine nicht stemmen, umso glücklicher ist Schneider, dass immer wieder Fans den Weg auf die Alb finden – von der Schweiz bis nach Holland. Sie messen sich etwa beim Rokkaku: Angefeuert von dem Samurai-Schlachtruf „Wascheu“ gehen die sechseckigen, japanischen Kampfdrachen in die Luft. Mit Flugmanövern werden andere Drachen zu Fall gebracht, nach kaum einer Minute steht der Sieger fest. Anschließend werden die Schnüre entheddert – oder gleich abgeschnitten.

15000 Drachenfans, schätzt Michael Zähler aus Waldbröl, gebe es in Deutschland. Zähler verkauft als „Drachenmichel“ mit seiner Frau Monika Drachen und Zubehör auf Drachenfestivals, acht Feste pro Jahr machten sie mit, sagt der 53-Jährige. Ende der 1990er Jahre seien es noch 60000 bis 70000 Drachenfans gewesen, sagt der Maschinenbauer, der den Drachenverkauf eine Zeit lang hauptberuflich betrieb. Letztendlich habe sich das aber nicht gerechnet. „Das Internet macht viel kaputt.“ An seiner Faszination für Drachen hat das nichts geändert. Wer sonst wüsste auf Anhieb Zeitpunkt und Ort des amtlichen Höhenweltrekords für Drachen? Es seien immer neue Erfindungen beim Drachenbau, die das Hobby so spannend machten, sagt Zähler.

Zur Szene gehört auch Bernhard Dingwerth aus Kassel. Von Australien über Kanada bis nach Vietnam lässt er seine Drachen steigen, häufig als offizieller deutscher Vertreter inklusive Deutschlandfähnchen an der Leine. Flug, Unterkunft und Verpflegung bezahlen ihm in der Regel Veranstalter, die so den Tourismus beleben. Dingwerths Spezialität sind luftgefüllte, stablose Drachen. Gummitiere oder Plastikfiguren dienen dem 62-Jährigen, der früher bei der Diakonie arbeitete, als Inspiration. Aus einer acht Zentimeter großen Salamanderfigur entstand so ein 20 Meter großer und gut 25 Kilogramm schwerer Drachen. 300 Quadratmeter Spinnaker-Nylon vernäht Dingwerth dafür mit zehn Kilometern Garn, ein gutes halbes Jahr sitzt er dafür im Keller seines Hauses.

Als er 1994 den Plan gefasst habe, ein 13 Meter langes Krokodil zu konstruieren, seien solche Riesendrachen noch Mangelware gewesen, sagt er. Lediglich der Neuseeländer Peter Lynn, heute Unternehmer und Erfinder des Kite-Buggys, habe sich mit Großdrachen auseinandergesetzt. „Ich wollte in die Vollen gehen, keiner konnte mir aber sagen, ob das funktioniert“, sagt Dingwerth. Doch schließlich sei Kroko am Himmel geschwebt.

Inzwischen gibt Dingwerth als dreimaliger deutscher Meister im Bauen stabloser Drachen sein Wissen im Internet an andere weiter. Kostenlos, zur privaten Nutzung. „Das hat bis auf ein unschönes Mal ganz gut funktioniert.“ Damals habe eine deutsche Firma seinen Frosch kopiert. Seine Ankündigung, keine Baupläne mehr zu veröffentlichen, sollte Schule machen, setzte aber das Unternehmen über soziale Netzwerke so unter Druck, dass es davon abließ. Jetzt freut sich Dingwerth, der ursprünglich Künstler werden wollte, wenn er am Himmel einen seiner Drachen entdeckt. Weil er weiß, dass der Drachenvirus angesteckt hat. Allerdings bestätigt Dingwerth die Meinung Zählers, dass die Hochzeit der Drachenszene vorüber sei – obwohl es durchaus junge, engagierte Drachenbauer gebe, die Zeit und Geld in ihre Modelle investierten. Doch Drachenvereine hätten es mitunter schwer, Festivals zu organisieren.

Im Saarland hat der Drachenclub Nepomuk mit gerade einmal zehn Mitgliedern jüngst erst ein zweitägiges Festival gestemmt – nach längerer Pause, weil immer weniger Besucher kamen: „Man muss sich rar machen“, sagt Vorsitzender Reinhold Gläser. Früher sei alles geboten worden, von Nachtshow bis hin zur Cocktailbar. Besucher von der Ostseeküste, aus Luxemburg und der Schweiz seien angereist. Aber die Auflagen beim Brandschutz hätten zugenommen, Gema-Gebühren seien gestiegen. Jetzt gehe es zurück zu den Anfängen. Trotzdem: An der Jugend will der Verein dranbleiben. Gläser hatte im Vorfeld des Drachenfests Bausätze zum Selberbauen an Kindergärten verteilt. „Ich will die Kinder weg vom Handy bekommen“, ist der Antrieb des gebürtigen Völklingers. 30 Jahre sei es her, dass er seinen ersten eigenen Drachen habe steigen lassen – im Hamburger Volkspark. „Da war mein Sohn gerade auf die Welt gekommen“, blickt er zurück. Inzwischen lagern etliche Drachen in Gläsers Keller, die Liebe zum Hobby ist geblieben – vielleicht auch, weil er ein Naturmensch sei, erklärt der 56-Jährige, der die ersten drei Feste noch als Privatperson organisierte.

Doch nicht nur für Feste gibt es Auflagen, auch für das Steigenlassen von Drachen allgemein macht der Gesetzgeber strenge Vorschriften. Nicht erlaubt ist nach der Deutschen Luftverkehrsordnung ein Drachenseil von mehr als 100 Metern Länge. Noch strenger ist das Steigenlassen von Drachen in der Nähe von Flughäfen. 1,5 Kilometer Abstand gilt hier. Im Internet tauschen sich Fans über gute Plätze aus. Schließlich müssen die Flächen halbwegs eben sein, weit genug entfernt von höheren Bäumen, Stromleitungen oder Straßen. Energieversorger empfehlen einen Mindestabstand von 600 Metern zu Leitungen. Und falls doch eine geeignete Wiese gefunden wurde, lässt sich schwer voraussagen, ob diese künftig landwirtschaftlich genutzt wird. Die Drachenfreunde Trier mussten ihr Drachenfest 2018 deswegen absagen.

Dieses Problem hat der Verein Albflyer, der in diesem Jahr 25 Jahre alt wird, nicht. Das Gelände gehört dem Flugsportverein Gerstetten, der sich um Organisation und Logistik kümmert. Rund 10000 Besucher an den zwei Tagen sind deshalb zu stemmen. Als die Dämmerung hereinbricht, beginnt das Nachtprogramm. Modellfesselballone fliegen unter dem Gejohle von Kindern über das Gelände, reflektierende Drachen schießen – von den Taschenlampen der Besucher beleuchtet – durch die tiefschwarze Nacht. Möglich, dass sich auch die eine oder andere Fledermaus dazugesellt – ganz ohne Leine.

Geschichte und Kultur der Drachen

Drachen sind eine uralte Erfindung, deren Ursprung nicht eindeutig belegt ist. In China wurden bereits im 5. Jahrhundert vor Christus Drachen aus Bambus und Seide gefertigt. Oft hatten diese tatsächlich das Aussehen eines Drachens, da dieser Glückssymbol ist. So galt es in der Qing-Dynastie (1644 bis 1911), den Drachen möglichst hoch fliegen zu lassen, um anschließend die Leine zu kappen. Mit dem Drachen sollten so die Sorgen fortfliegen. Auch zu militärischen Zwecken sollen Drachen genutzt worden sein, um Entfernungen zu feindlichen Stellungen abzumessen oder als Signal, um Hilfe zu erbitten. Andere Forscher schätzen, dass Drachen von Völkern im Pazifik erstmals verwendet wurden, um sie als Segel zum Fischen zu verwenden.

In vielen Ländern haben sich Drachentraditionen erhalten: In Guatemala lassen die Menschen an Allerheiligen die „Barriletes Gigantes“ – Riesendrachen – in den Himmel steigen. Angehörige versuchen so, Verbindung zu Geistern der Verstorbenen herzustellen. In Afghanistan erobern während des Neujahrfests Nauroz Drachen den Himmel, ein Spektakel, das unter den Taliban verboten war. In Wettkämpfen wird versucht, gegnerische Schnüre mit dem eigenen Drachen zu zerschneiden. Dafür werden die Schnüre mit Scherben präpariert. In Kambodscha erlebt die unter den Roten Khmer fast ausgestorbene Tradition der Musikdrachen eine Renaissance. Letztere erzeugen beim Fliegen Geräusche.

Die früheste Abbildung eines Drachens in Europa stammt aus dem Jahr 1326/1327. 1985 wurde unter dem Fußboden eines niederländischen Hauses ein Drachen entdeckt und auf das Jahr 1773 datiert. Er gilt als ältestes erhaltenes Exemplar der Welt. flor

Drachenfeste in der Region

Zum vierten Mal veranstaltet der Flugsportverein Südlicher Donnersberg am Samstag und Sonntag, 29. und 30. September, bei Imsweiler ein Drachenfest. Bastler tummeln sich unter den Mitgliedern nicht. Das Fest sei vielmehr aus der Not geboren, verrät Vorstandsmitglied Helen Grob. Wegen strengerer Sicherheitsstandards hätte man das Flugplatzfest sterben lassen müssen, es dafür mit Drachenprämierungen und Ballonglühen wiederbelebt. In diesem Jahr wird erstmals zwei Tage gefeiert. „Es spricht sich rum“, sagt Grob, die Fans im Netz anschreibt.

Am selben Wochenende lädt der Drachenclub Aiolos an den Badesee Rodgau im hessischen Niederroden ein, wo sich regelmäßig Fans zum Drachensteigen treffen, erklärt Vorstandsmitglied Sven Christiansen. Der Club feiert 25-jähriges Bestehen. Geboten werden unter anderem Massenstarts verschiedener Drachen, Ballonschießen mit Nullwinddrachen sowie ein Nachtprogramm. flor

Weitere Drachenfeste: 6. und 7. Oktober, Laichingen; 13. und 14. Oktober, Waldhessen bei Iba und Malmsheim; 27. und 28. Oktober, Löchgau; alle Informationen auf www.drachen-feste.de

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