Ethik tritt dann auf den Plan, wenn das Gute, das das Ethos vom Bösen oder Schlechten unterscheidet, sich nicht mehr von selbst versteht. Ethik ist ein Krisenphänomen. Ihre Stunde kommt, wenn wir in moralische Konflikte geraten und nicht wissen, was wir tun beziehungsweise lassen sollen. Ethik entsteht nicht im luftleeren Raum. Auch nicht in der dünnen Luft der Theorie. Ihr Ort ist vielmehr die belastende Atmosphäre konkreter Konflikte. Und sie ist gebunden an bestimmte Zeiten und Räume.
Wir durchleben gerade eine so noch nie dagewesene Zeit. Täglich beten wir für erkrankte Menschen sowie für Ärztinnen und Ärzte, für Pflegende und Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Krankenhäusern. Bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit sind sie gefordert. Hinzu kommen mögliche Entscheidungssituationen, die nur als Dilemmata bezeichnet werden können. Dass sie gegenwärtig sehr real sind, zeigt ein Blick nach Italien oder Frankreich.
Wenn Beatmungsgeräte und Intensivbetten fehlen
Jedes Leben besitzt die gleiche Würde. Deswegen sind Ärzte allen Notleidenden gegenüber in gleicher Weise zur Hilfe verpflichtet; das gehört zum moralischen Fundament unserer Gesellschaft. Dieser Gleichheitsgrundsatz kann durch Kriege, Katastrophen, Unfälle und eben auch durch Pandemien infrage gestellt werden – konkret: wenn nicht für alle der medizinischen Behandlung bedürftigen Personen ausreichende materielle und personelle Ressourcen vorhanden sind. Etwa, wenn zu wenige Beatmungsgeräte oder zu wenige Intensivbetten zur Verfügung stehen für zu viele Patientinnen und Patienten. Dann muss eine Vorgabe entwickelt werden, wie und bei wem medizinische Hilfe priorisiert wird. Man nennt sie Triage. Das Wort kommt aus dem Französischen und bedeutet „Sortieren“, „Auswählen“. Ziel dabei ist, mit den begrenzten Ressourcen so viele Menschen wie möglich zu retten.
In kürzester Zeit müssen hier Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden. Dazu bedarf es klinisch-ethischer Empfehlungen: Sollen etwa junge Patienten bevorzugt behandelt, ältere dagegen hintangestellt werden? Sollen Mütter und Väter von kleinen Kindern zuerst an die Beatmungsmaschine kommen, damit keine Waisen zurückbleiben? Soll man einen 90-Jährigen erst gar nicht auf der Intensivstation pflegen, weil er ohnehin nicht mehr lange zu leben hat?
Angesichts solch schwieriger Fragen haben vor wenigen Wochen sieben medizinische Fachgesellschaften in Deutschland Richtlinien erarbeitet, die bei Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in einer Situation akuter Knappheit helfen sollen. Hiernach gilt: Alter, Geschlecht, sozialer Status, Nationalität, Religion oder eine vorhandene Behinderung dürfen dabei keine Rolle spielen. Das ausschlaggebende Kriterium kann nur die „klinische Erfolgsaussicht“ sein, das heißt: Wer hat die besseren Chancen zu überleben und zu genesen?
Folglich haben diejenigen die höchste Priorität, deren Prognose mit Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig ist. Wer hingegen auch ohne Intensivmedizin eine Heilungschance hat, wird auf eine Normalstation verlegt. Patienten aber, die – etwa aufgrund einer schweren Begleiterkrankung – eine schlechte Prognose haben, werden im Extremfall, so heißt es in einer vergleichbaren Verlautbarung der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, „dem Tod überlassen“ und palliativ betreut.
Wenn es zur Priorisierung von Patienten kommt
Die akuten Belastungssituationen, denen Ärzte, Pflegende und Seelsorger hier ausgesetzt sind, könnten größer nicht sein. Zumal jedes Modell der Urteilsbildung unter dem Vorbehalt steht, dass es Einzelfälle gibt, die darunter nicht zu fassen sind – oder überhaupt nicht nach Regeln behandelt werden können.
Was zum Beispiel tun, wenn eine Priorisierung von Patienten vorgenommen werden muss, die medizinisch gesehen ähnliche oder vermutlich gleiche Erfolgsaussichten haben? Hier sind Dilemmasituationen gegeben, in denen sich sowohl im Falle des Handelns als auch im Falle des Unterlassens schwere Schuldgefühle einstellen, an denen Menschen zerbrechen können. Weder unsere moralische Intuition noch eine Methodik der ethischen Urteilsbildung schützen vor tragischen und letztlich unauflösbaren Konflikten.
Dietrich Bonhoeffer hat meines Erachtens das Problem, das sich in derartigen Entscheidungslagen ergibt, treffend charakterisiert, indem er feststellt: In einer Dilemmasituation, in der nicht Recht gegen Unrecht, sondern Unrecht gegen Unrecht oder Recht gegen Recht steht, ist das „verantwortliche Handeln … ein freies Wagnis“, das „durch kein Gesetz gerechtfertigt“ werden kann. Moralisch richtiges Handeln gibt es hier also nicht. Vielmehr gehört in solchen Dilemmata zum verantwortlichen Handeln, wie Bonhoeffer sagt, „die Bereitschaft zur Schuldübernahme“. Die, die hier gezwungen sind, zu entscheiden, nehmen – aus Verantwortung – Schuld auf sich, weil ein Weg der Schuldvermeidung dabei ausgeschlossen ist.
Möglichst zu verhindern, dass Ärzte, Pflegende und Seelsorger solchen unfassbaren Situationen ausgesetzt sind, war und ist der Grund für die Einschränkungen, die wir seit Wochen in Kauf nehmen. Nicht aus Zwang, nicht aus Unterwerfung und nicht als „Opfer“; auch nicht als Aushalten einer Kränkung! Sondern aus innerer Überzeugung beachten wir sie: um nach Kräften genau dies zu vermeiden, dass in unseren Kliniken mehr Kranke beatmet werden müssen, als Kapazitäten vorhanden sind. Deshalb müssen im Blick auf die jetzt erfolgten Öffnungen – auch und gerade hinsichtlich unserer Gottesdienste – der verantwortungsvolle Umgang mit Risiken und der Schutz von Gesundheit und Leben auch weiterhin oberste Priorität haben.
Die Corona-Krise ist für mich ein Ernstfall der Freiheit: Es geht um die Gott verdankte Freiheit, mit der verantwortlich umzugehen unsere Aufgabe ist. Gelingt uns dies, die eigene Freiheit mit der Freiheit des Mitmenschen, die Liebe zu uns selbst mit der Liebe zum Nächsten zusammenzubringen, dann werden wir auch ohne Beschädigung unseres freiheitlichen Zusammenlebens, sondern mit einem Mehr an Sensibilität und Aufmerksamkeit füreinander aus der gegenwärtigen Krise herausfinden. Ja, es lohnt sich, jetzt an die Zeit danach zu denken und die Nachhaltigkeit unserer Einsichten aus diesen Tagen sicherzustellen.
Dr. h.c. Christian Schad ist Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz. Als Vorsitzender des Verwaltungsrats der Diakonissen Speyer war er an der Erarbeitung klinisch-ethischer Richtlinien aktiv beteiligt.