Ein Morgen voller Dankbarkeit

Unterwegs zu Patienten mit Schwester Sabine Gailing von der Ökumenischen Sozialstation Ludwigshafen

14 Besuche in vier Stunden: Schwester Sabine Gailing kontrolliert bei Elvira Tuch die richtige Tabletteneinnahme. Foto: Kunz

„Humor hilft.“ Das sagt die ältere Frau, für die Sabine Gailing gerade nach dem Insulin sucht, über ambulante Pflege. „In der Speisekammer“, weist die Rheingönheimerin der 55-Jährigen den Weg. „Im kleinen Kühlschrank.“ Gailing wird fündig und spritzt das Insulin, kontrolliert noch die Tabletteneinnahme. Zuvor hat sie sich zum x-ten Mal an diesem Tag die lilafarbenen Einweghandschuhe übergezogen. Die Thrombrosestrümpfe hat sie in wenigen Sekunden angezogen. Leicht sieht es aus, die Handgriffe sitzen.

Gailing mag ihre Arbeit. 1981 hat sie angefangen mit der Ausbildung als Krankenschwester. Die Zeit danach im Krankenhaus hat sie als frustrierend erlebt. „Zu wenig Personal für zu viele Patienten.“ Als sie der Liebe wegen nach Ludwigshafen zog, lernte sie erstmals die ambulante Pflege kennen. „Ich war überrascht, wie angenehm das Arbeiten war“, sagt Gailing. Mittlerweile hat sie sich hochgearbeitet, ist stellvertretende Pflegedienstleiterin und Teamleiterin.

Die Patienteninformationen sind sowohl im Smartphone als auch in einem Buch hinterlegt. „Damit alles läuft, wenn die Technik streikt.“ Neben ärztlichen Verordnungen finden sich nützliche Hinweise wie „möchte nicht geduscht werden“. Vieles hat Gailing im Kopf. Auch Sonderfälle wie den Hund, den die Untermieter einer dementen Frau halten. „Der wird erstmal weggesperrt“, sagt sie beim Klingeln. Als geöffnet wird, schlüpft ein Schäferhundmischling durch den Türspalt, schnappt nach Gailing. „Das gibt eine Anzeige“, sagt sie und lässt auch keine Beteuerungen der Hundebesitzer gelten, die sich das Verhalten nicht erklären können. „Das war jetzt schon das zweite Mal.“

Gailing wirkt trotz des Bisses routiniert, beruhigt die 72-jährige Patientin, die sich verantwortlich fühlt, obwohl ihr der Hund gar nicht gehört. Eine halbe Stunde später gibt sie zu: „Der Hund hängt mir doch noch nach.“ Doch der Zeitplan duldet keine großen Unterbrechungen.

Da ist die Patientin, die um 5 Uhr aufgestanden ist und über Kreuzweh klagt. „Die Knochen sind halt genauso alt wie die Hülle“, entgegnet Gailing. Da ist die 82-jährige Demenzkranke, bei der die Schwester eine Entzündung kontrolliert – und von ihr Schokolade geschenkt bekommt – wie jedes Mal. Da ist der stark Schwerhörige, der – noch in Unterwäsche – beteuert, die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben.

Die Pflegekraft spricht kaum ein Wort Deutsch, ist mit der Wundversorgung fachlich überfordert, der Pflegedienst müsste sich darum kümmern. „Wir brauchen dringend eine ärztliche Verordnung, um rechtlich abgesichert zu sein“, ist Gailings Fazit. „Und, können wir bald einen Ohrring stechen?“, witzelt sie mit einem 64-jährigen Diabeteskranken, als sie den Blutzucker am Ohrläppchen misst. Er begleitet sie bis zur Haustür, bedankt sich – wie viele andere auch. Als Selbstverständlichkeit, bezahlter Dienst, scheinen die Patienten die Besuche nicht zu empfinden. Katze Minka streicht ihr um die Beine, als sie ein Ehepaar versorgt. Das Verbandsmaterial haben beide schon bereitgelegt, gleich neben Zeitung und Kaffeetasse.

Pro Schicht sind es 20 bis 30 Patienten. Die Touren sind so gelegt, dass die Fahrzeiten kurz sind. Dazu kommen spezielle Wünsche. Wenn eine Patientin um 10 Uhr zur Seniorentagespflege abgeholt wird, müssen bis dahin die Thrombosestrümpfe sitzen.

Raus aus dem Auto, rein in die Wohnung im dritten Stock, wieder runter. 1000 Schritte am Tag? Gailing winkt ab: Deutlich mehr. Unter Druck fühlt sie sich jedoch nicht. „Die Büroarbeit ist stressiger, weil immer irgendwas dazwischen­kommt.“ Nach jeder Tour spricht Gailing mit Angehörigen, schickt Faxe an Ärzte, klärt strittige Fragen. Wenigstens nimmt die Dokumentation seit Kurzem weniger Zeit in Anspruch. Diese orientiert sich jetzt an den tatsächlichen, nicht mehr an den möglichen Bedürfnissen des Patienten. Weshalb sich auf der Autorückbank Gailings nun Dokumentationsordner stapeln. Entschlackung ist notwendig.

„Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle“, kommt es aus dem Radio, als Gailing eine 91-Jährige im Betreuten Wohnen besucht. Bilder von Familienangehörigen hängen an den Wänden. Rollator, Bett und Sofa geben den Radius der Frau vor, die aber noch sehr fit wirkt. Nur das Wasser, das sich in den Beinen staut, macht ihr Probleme. „Wollen sie nicht über einen Rollstuhl nachdenken?“, fragt Gailing. Ihre Schwiegertochter könnte sie dann nach draußen fahren. Die ältere Dame winkt ab. „Sag mir, wo bist du?“, singt Wolfgang Petry.

In der nächsten Wohnung kommt Gailing zeitgleich mit dem Paketboten an. „Vitamine für meine Augen“, klärt die Patientin auf. „Hat meine Tochter im Internet bestellt, ist viel billiger als aus der Apotheke.“ Gailing erkundigt sich nach dem letzten Krankenhausaufenthalt. Offenbar hat sich der Verdacht auf zwei gebrochene Wirbel nicht bestätigt. Dann versucht sie Ordnung in den Berg Tablettenschachteln zu bringen, der sich vor ihr türmt. Kurze Zeit später ist die Wochendosis vorbereitet. Gailing will nachzuschauen, ob ein Wirkstoff in Tablettenform zu haben ist. Gegen das schlechte Einschlafen hat sie einen Rat. „Die Schlaftabletten spätestens eine Stunde vor dem Zubettgehen nehmen.“

Beratung ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, sagt Gailing. Einer 91-Jährigen, der das Essen auf Rädern nicht schmeckt, empfiehlt sie, es doch einmal mit Trinknahrung zu versuchen. Die ältere Frau schreit beim Strumpfanziehen laut auf. „Ich habe dünne Haut, das tut immer schnell weh.“ Und dann steht sie plötzlich im Raum, die Frage nach dem Tod: „Warum muss ich das aushalten?“ „Ist halt noch kein Plätzel frei“, entgegnet Gailing, die manchmal aber auch sprachlos ist. „Schlimm ist, wenn die Leute merken, dass sie vergesslich werden.“ Relativieren könne sie da nichts. Und es lässt Gailing über das eigene Altern nachdenken, sie, die es in all seinen Facetten kennt – mit und ohne Partner, in Würde, in Krankheit. So lange wie möglich mit ihrem Mann selbstständig leben, von Krankheiten verschont bleiben, das wünscht sie sich. „Und dass ich erlebe, dass die Situation in der Pflege deutlich besser wird.“

Knapp vier Stunden ist Gailing unterwegs, seit Schichtbeginn um 6.30 Uhr hat sie 14 Besuche erledigt. Ein Anruf auf dem Handy, eine Mitarbeiterin will wissen, ob sie das Duschen einer Patientin heute noch übernehmen soll. Dann dreht sie den Zündschlüssel. Der nächste Patient wartet. Florian Riesterer

Nachfrage größer als Angebot

Rund 100 Pflegekräfte der ökumenischen Sozialstation in Ludwigshafen betreuen rund 900 Patienten. „Wir könnten auch mehr Patienten aufnehmen, wenn wir das Personal hätten“, sagt Pflegedienstleiterin Stephanie Horst. Aktuell habe sie sogar Anfragen aus Limburgerhof und Altrip. „Die finden dort keinen Dienst“, sagt Horst. Besonders schlimm sei es, wenn 24-Stunden-Kräfte plötzlich ausfallen.

Vom Sofortprogramm der Bundesregierung erwartet sie keine Entspannung bei der Personalsituation. Die 8000 Stellen kämen eher Kliniken und Altenheimen zugute. „Wir müssen das selber erwirtschaften.“ Ein Vorteil sei, dass die Sozialstation selbst ausbilde. „Die Azubis kennen die Station, und wir kennen die Azubis.“ Allerdings hätte sie für das nächste Ausbildungsjahr nur wenige Bewerber. Die Bezahlung sei nicht der Grund. „Was wir machen müssen, ist den Pflegeberuf noch bekannter zu machen, beispielsweise durch Schulpraktika.“ flor

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